Zweck der russischen Truppenanhäufungen. 187
Hand, je näher es seinen westlichen Grenzen steht mit seinen
Haupttruppen oder wenigstens doch mit einer starken Armee.“
Die Lage ist bis heute im Wesentlichen dieselbe geblieben.
Denn wenn auch das Bündniß zwischen Rußland und Frank-
reich nach der Verbrüderung von Kronstadt zum Abschluß ge-
kommen sein sollte, was actenmäßig bekanntlich nicht feststeht,
so liegt doch Rußland an sich ein Angriff auf Deutschland
fern. Was könnte es dabei gewinnen? Rußland vermag
kaum den deutschen Bestandtheil seiner baltischen Provinzen
zu vertragen, wie sollte es danach trachten, das für gefährlich
gehaltene deutsche Element durch einen so kerndeutschen Stamm,
wie es die Ostpreußen sind, zu verstärken? Auch an polnischer
Bevölkerung hat es mehr, als es brauchen kann. Ebensowenig
dürfte Rußland zum Angriff auf Oesterreich ohne Grund
übergehen, wenn seine Aufstellungen im Westen beendet sind.
Denn nicht an seinen Westgrenzen, sondern auf der Balkan-
halbinsel und in Asien liegen die Interessen, deren Wahr-
nehmung die Zukunft von Rußland gebieterisch fordert. Bis-
marck ist der Meinung, daß die Truppenaufstellung im
russischen Westen auf keinen directen Angriff gegen Deutsch-
land oder Oesterreich berechnet ist, sondern nur auf Ver-
theidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehen gegen die Türkei
die westlichen Mächte zur Abwehr bestimmen sollte. Er hält
für wahrscheinlich, daß Rußland nach Beendigung seiner
Rüstung zu Wasser und zu Lande dem Sultan eine Bürgschaft
seiner Stellung in Konstantinopel und den ihm verbliebenen
Provinzen anbietet, wenn er Rußland den Schlüssel zum
Schwarzen Meere in Gestalt eines russischen Verschlusses
des Bosporus gewährt, und die Möglichkeit, daß ein solcher Vor-
schlag durch den Sultan angenommen werde, scheint ihm nicht
ausgeschlossen, nachdem England und Oesterreich — das eine
durch die Gladstoneschen Kundgebungen, das andere durch die
Besitzergreifung von Bosnien und Herzegowina — sich von
ihrer überkommenen Politik der Erhaltung des türkischen
Reiches offen losgesagt haben. Sollte der Sultan das
russische Anerbieten abweisen, so würde Rußland vermuthlich
mit seiner neugebildeten Schwarzen-Meer-Flotte die Stellung