Gortschakow. Bismarcks Stellung am russischen Hofe. 55
liberale Dummheit der Unterstützung des Battenbergers freilich
ließ sich Fürst Bismarck nicht ein, und die in den ersten Jahren
des neuen Curses vorhandenen dynastischen Verstimmungen
scheinen nach Caprivis Rücktritt wieder ausgeglichen worden
zu sein. Als üble Erinnerung daran ist die russisch-französische
Verbrüderung geblieben — eine beständige Mahnung, daß
wir nicht ungestraft von den Bahnen der Bismarckschen Politik
abweichen können.
Am russischen Hofe nahm Bismarck ganz die Stellung
eines Familiengesandten ein; das äußerte sich auch in der
Art, wie er in Zarskoe oder Peterhof aufgenommen ward,
und nicht ohne Vergnügen wird man seine Erzählungen von
der Gastfreiheit des zarischen Hofes lesen und von dem groß-
fürstlichen enlant terrible, das Bismarck auf's Freundlichste
begrüßte, sich aber weigerte, einem miteingeladenen russischen
General gleiche Freundlichkeit zu erweisen, und nach dem
Grunde der Weigerung gefragt, mit Bezug auf Bismarck ant-
wortete: „Der ist lieb“ (on milü), mit Bezug auf den General:
„Der stinkt“ (on wonjact). Ernster stimmen, wegen der daraus
zu erschließenden Verderbniß der höheren Gesellschaftsclassen,
die Berichte von den Unterschleifen, die sich die Beamten des
kaiserlichen Hofhalts zu Schulden kommen ließen, sowie von
den unlauteren Mitteln, die die damalige russische Diplomatie
anwendete, um hinter die Geheimnisse der andern Mächte zu
kommen. Auf wie tiefer Linie die sittlichen Anschauungen
selbst in den führenden Kreisen standen, lehrt Alexanders II.
naive Klage über seine deutschen Vettern, die in ihren Briefen
an kaiserliche Familienglieder die russische Politik kritisirten
und die Briefe mit der Post schickten, damit ihre Grobheiten
sicher zu seiner persönlichen Kenntniß gelangten. Der Zar
hielt es für sein unstreitbares Recht, jeden mit der russischen
Post eingehenden Brief ohne Weiteres zu öffnen, um von
dem Inhalte Kenntniß zu nehmen. In Oesterreich freilich
und im Postgebiet von Thurn und Teaxis stand es zur da-
maligen Zeit nicht besser, und mancherlei Erfahrungen der
letzten Jahre lassen den Verdacht nicht unbegründet erscheinen,
daß auch jetzt noch nicht das Briefgeheimniß überall vor den