Full text: Wegweiser durch Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. (3)

Preußen und Rußland. Minister-Verantwortlichkeit. 65 
antwortlich zu machen sei. Für die Zeitgenossen, meint er, 
werde es meist sehr schwer sein, die Verantwortlichkeit sofort 
richtig zu vertheilen, da die Ausschüttung der Archive und 
die Denkwürdigkeiten Mithandelnder und Mitwissender ge- 
wöhnlich erst 50 bis 100 Jahre später die öffentliche Meinung 
in den Stand setzten, für die einzelnen Mißgriffe die Gabelung 
auf den unrichtigen Weg zu erkennen. Von dem reichen Erbe 
an Autorität und Glauben an die preußische Politik und 
Macht, das Friedrich der Große hinterließ, „konnten seine 
Erben — wie heute der neue Curs von der Erbschaft 
des alten — zwei Jahrzehnte zehren, ohne sich über die 
Schwächen und Irrthümer ihrer Epigonenwirthschaft klar 
zu werden; noch in die Schlacht von Jena hinein trugen sie 
sich mit der Ueberschätzung des eigenen militairischen und 
politischen Könnens. Erst der Zusammenbruch der folgenden 
Wochen brachte den Hof und das Volk zu dem Bewußtsein, 
daß Ungeschick und Irrthum in der Staatsleitung obgewaltet 
hatten. Wessen Ungeschick und wessen Irrthum aber, wer 
persönlich für diesen gewaltigen und unerwarteten Zusammen- 
bruch die Verantwortlichkeit trug, darüber kann selbst heute 
noch gestritten werden.“ Im absoluten Staate liegt die Ver- 
antwortlichkeit in letzter Instanz immer bei dem Souverain, 
dessen Entschlüsse unanfechtbare Willensacte sind, die die 
Minister auszuführen haben. Im constitutionellen Staate sind 
der Theorie nach freilich die Minister verantwortlich, aber die 
Ministerverantwortlichkeit ist von dem Willen des verantwort- 
lichen Monarchen nicht unabhängig. Fürst Bismarck hat — 
und das zeichnet ihn vor allen Staatsmännern unserer Zeit 
aus — ein Bewußtsein von der Pflicht seiner Verantwortlich= 
keit gehabt, wie man es sobald nicht wieder finden wird. 
Vor seinem Rücktritt erwog er die Frage, ob er nicht vor der 
Geschichte eine schwere Verantwortung für alle üblen Folgen 
seines Ausscheidens auf sich nehme, und da er sie sich vor 
seinem Gewissen bejahend beantworten mußte, unterließ er die 
Einreichung des Entlassungsgesuches, bis ein stricter Befehl 
des Kaisers ihn dazu zwang. Eine weitere Einschränkung 
erfährt die Ministerverantwortlichkeit im constitutionellen 
Kohl, Wegweiser. 5H
	        
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