66 VIII. Ein Rückblick auf die preußische Politik.
Staate durch „die collegiale Form des Staatsministeriums
mit ihren Majoritätsabstimmungen“, die den leitenden Minister
zu Compromissen und zur Nachgiebigkeit seinen Collegen gegen-
über täglich nöthigt. Darum hat Fürst Bismarck sich jederzeit
im Reiche der Bildung von gleichberechtigten Reichsministerien
widersetzt, und wir sollten ihm dankbar dafür sein, statt ihm
als Herrschsucht und Streben nach einer Majordomus-Stellung
auszulegen, was einzig und allein ein Beweis seines hochge-
spannten Pflichtbewußtseins und Verantwortlichkeitsgefühls
war. Denn verantwortlich im eigentlichen Sinne des Wortes
kann nur Einer sein. Bei Majoritätsabstimmungen eines
Ministercollegiums hat jeder Einzelne die Möglichkeit, sich
auf die Vota derer zu berufen, die ihn überstimmt haben;
für die meisten wird dann die kbnigliche Unterschrift eine
Deckung, hinter der sie gegen den lästigen Zwang persönlicher
Verantwortung Schutz suchen.
Zum Thema der versäumten Gelegenheiten zurücklenkend,
gedenkt Bismarck der Haltung des Regenten im italienischen
Kriege. Die preußische Politik vermochte sich auch damals
nicht zur Selbständigkeit aufzuraffen und die Verwendung
der preußischen Kriegsmacht zu Gunsten Oesterreichs von
Zugeständnissen in der deutschen Bundespolitik abhängig zu
machen. „Die Situation“, sagt Bismarck, „wurde nicht unter
dem Gesichtspunkte einer vorwärtsstrebenden preußischen
Politik betrachtet, sondern in dem gewohnheitsmäßigen Streben,
sich den Beifall der deutschen Fürsten, des Kaisers von Oester-
reich und zugleich der Presse zu erwerben, in dem unklaren
Bemühen um einen idealen Tugendpreis für Hingebung an
Deutschland, ohne irgend eine klare Ansicht über die Gestalt
des Zieles, die Richtung, in der, und die Mittel, durch die
es zu suchen wäre.“ Unter dem Einflusse seiner Gemahlin und
der Wochenblattspartei war der Regent nahe daran, sich an
dem Kriege gegen Frankreich als Bundesgenosse Oesterreichs
zu betheiligen. Das hätte unzweifelhaft die Wirkung gehabt,
daß der französisch-österreichische Krieg zu einem französisch-
preußischen am Rhein geworden wäre, in welchem Oesterreich
die Rolle des tertius gaudens gespielt haben würde. Zu einer