Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Dritter Band. (3)

128 Zehntes Kapitel: Kaiser Wilhelm II. 
  
Kaisern Friedrich und Wilhelm J. zum Grunde liegend fand. 
Bei dem Letzteren gehörte das starke und gläubige Gott- 
vertrauen dazu, um bei der bescheidenen und vor Gott und 
Menschen demüthigen Auffassung der eignen Persönlichkeit die 
Festigkeit der Entschlüsse zu gewähren, welche er in der Con- 
flictszeit an den Tag gelegt hat. Beide Herren versöhnten 
durch ihre Herzensgüte und ihre ehrliche Wahrheitsliebe mit 
gelegentlichen Abweichungen von der landläufigen Einschätzung 
der praktischen Wirkungen königlicher Geburt und Salbung. 
Wenn ich mir ein Bild des jetzigen Kaisers nach Abschluß 
meiner Beziehungen zu seinem Dienste zu machen suche, so 
finde ich in ihm Eigenschaften seiner Vorfahren in einer Weise 
verkörpert, die für meine Anhänglichkeit eine starke Anziehungs- 
krast haben würden, wenn sie durch das Princip einer Gegen- 
seitigkeit zwischen Monarch und Unterthanen, zwischen Herrn 
und Diener belebt wären. Das germanische Lehnrecht gibt 
dem Vasallen außer dem Besitz des Gegenstandes wenig An- 
spruch, aber doch den auf Gegenseitigkeit der Treuc zwischen 
ihm und dem Lehnsherrn; Verletzung derselben von der einen 
wie von der andern Seite heißt Felonie. Wilhelm I., sein 
Sohn und seine Vorsahren besaßen das entsprechende Gefühl 
in hohem Maße, und dasselbe ist die wesentliche Basis der 
Anhänglichkeit des preußischen Volkes an seinen Monarchen, 
was psoychologisch erklärlich ist, denn die Neigung, einseitig 
zu lieben, liegt nicht als dauernde Triebkraft in der menschlichen 
Seele. Kaiser Wilhelm II. gegenüber habe ich mich des Ein- 
drucks einseitiger Liebe nicht erwehren können; das Gefühl, 
welches die festeste Grundlage der Verfassung des preußjischen 
Heeres ist, das Gefühl, daß der Soldat den Offizier, aber auch 
der Offizier den Soldaten niemals im Stiche läßt, ein Gefühl, 
welchem Wilhelm I. seinen Dienern gegenüber bis zur Ueber- 
treibung nachlebte, ist in der Auffassung des jungen Herrn 
bisher nicht in dem Maße erkennbar; der Anspruch auf un-
	        
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