130 Zehntes Kapitel: Kaiser Wilhelm II.
ihn für meine Ansicht zu gewinnen, so fügte ich mich wo
möglich, und war es mir nicht möglich, vertagte ich die Sache
oder ließ sie definitiv fallen. Meine Unabhängigkeit in Leitung der
Politik ist von meinen Freunden ehrlich, von meinen Gegnern
tendenziös überschätzt worden, weil ich auf Wünsche, denen der
König dauernd und aus eigener Ueberzeugung Widerstand ent-
gegen setzte, verzichtete, ohne sie bis zum Conflict zu vertreten.
Ich nahm auf Abschlag, was erreichbar war, und zum strike
meinerseits kam es nur in Fällen, wo wie in der Reichsglocken-
frage durch die Kaiserin und in der Usedom'schen durch maure-
rische Einwirkungen mein persönliches Ehrgefühl in Mitleiden-
schaft gezogen wurde; ich bin weder Höfling noch Maurer gewesen.
Der Kaiser zeigt das Bestreben, durch Concessionen an seine
Feinde die Unterstützung seiner Freunde entbehrlich zu machen.
Auch sein Großvater machte bei Antritt der Regentschaft den
Versuch, die allgemeine Zufriedenheit seiner Unterthanen zu
gewinnen, ohne deren Gehorsam zu verlieren und so die staat-
liche Sicherheit zu gefährden; aber nach vierjähriger Erfahrung
erkannte er die Irrthümer seiner Rathgeber und seiner Ge-
mahlin, welche annahmen, daß Gegner der Monarchie durch
liberale Concessionen in Freunde und Stützen derselben ver-
wandelt werden würden. Er war dann 1862 eher geneigt,
abzudanken als dem parlamentarischen Liberalismus weiter
nachzugeben, und nahm gestützt auf die latenten, aber schließlich
stärkeren treuen Elemente den Kampf auf.
Der Kaiser hat, in seiner christlichen, aber in den Dingen
dieser Welt nicht immer erfolgreichen Tendenz der Versöhnung,
mit dem schlimmsten Feinde, der Socialdemokratie, den An-
fang gemacht. Dieser erste Irrthum, der sich in der Behand-
lung der Streiks von 1889 verkörperte, hat zu gesteigerten
Ansprüchen der Socialisten und neuen Verstimmungen des
Monarchen geführt, sobald sich heraus stellte, daß unter dem
neuen Regimente ebenso wie unter dem alten der beste mon-