Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Dritter Band. (3)

10 Drittes Kapt'tel: Boetticher. 
  
mus findet in dem Ministerpräsidium nicht Statt. Ich hatte mich 
gewöhnt, ihn als einen persönlichen Freund zu betrachten, der 
seinerseits durch unsere Beziehungen vollständig befriedigt wäre. 
Auf eine Enttäuschung war ich um so weniger gefaßt, als ich 
im Stande gewesen war, ihm in seinen durch die Schulden und 
die Vergehn seines Schwiegervaters, eines Bankdirectors in 
Stralsund, bedenklich gesährdeten Familieninteressen wesentliche 
Dienste zu leisten. 
Den Zeitpunkt, zu welchem er den Versuchungen des Kaisers, 
mit diesem ohne mein Wissen nähere Fühlung als mit mir zu 
nehmen, zuerst erlegen ist, kann ich nicht genau bestimmen. Die 
Möglichkeit, daß er mir gegenüber unaufrichtig verfahren könne, 
lag meinen Gedanken so fern, daß ich sie erst geprüft habe, als 
er im Jahre 1890 im Kronrathe, im Ministerium und im Dienste 
mir offen opponirte, Partei nehmend für kaiserliche Anregungen, 
über welche ihm meine principiell entgegengesetzte Ansicht be- 
kannt war. Mittheilungen, die mir später zugegangen sind, 
und der Rückblick auf Vorgänge, denen ich gleichzeitig wenig 
Beachtung geschenkt hatte, haben mich nachträglich überzeugt, daß 
Herr von Beoetticher schon seit längerer Zeit den persönlichen 
Verkehr mit dem Kaiser, in welchen ihn meine Vertretung 
brachte, sowie seine Beziehungen zu dem badischen Gesandten 
Herrn von Marschall und durch dessen Schwiegervater Gem- 
mingen zu dem Großherzoge von Baden dazu benutzt hatte, um 
sich auf meine Kosten nähere Beziehungen zu Sr. Majestät zu 
schaffen und sich in diejenigen Lücken einzunisten, welche zwischen 
den Auffassungen des jugendlichen Kaisers und der greisenhaften. 
Vorsicht seines Kanzlers bestanden. Die Versuchung, in welcher 
sich Herr von Boetticher befand, den Reiz der Neuheit, welchen 
die monarchischen Aufgaben für den Kaiser hatten, und meine 
vertrauensvolle Müdigkeit in Geschäften zum Nachtheile meiner 
Stellung auszubeuten, wurde, wie ich höre, durch weibliches 
Rangstreben und in Baden durch gelangweiltes Einflußbedürfniß
	        
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