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Fernhallung von Verlin. Ministersitzung. 53
Morgens, zwei Tage vor dem Schlusse des Reichstags, tele-
graphirte mir Boetticher, der Kaiser habe ihm durch einen Ad-
jutanten sagen lassen, daß am solgenden Tage um 6 Uhr Kron-
rath sein solle, und antwortete auf meine Rückfrage, was der
Gegenstand der Berathung sein werde, er wisse das nicht.
Mein Sohyn, durch mich von meiner Correspondenz mit Boetticher
unterrichtet, begab sich Nachmittags zu dem Kaiser und erhielt
auf seine Frage nach dem Zweck des Conseils die Antwort,
Se. Majestät wolle dem Ministerium seine Ansicht über die
Arbeiterfrage darlegen und wünsche, daß ich dazu komme. Auf
die Bemerkung meines Sohnes, er erwarte mich schon am
Abend des laufenden Tages, sagte der Kaiser, ich möge lieber
erst um Mittag des solgenden Tages eintreffen, damit ich nicht
en demeure gesetzt würde, noch im Reichstage zu erscheinen, da
eine Aeußerung meiner von der Majorität abweichenden Ansicht
das Cartell gefährden könne — es ist hinzuzudenken: und mit
den Allerhöchsten Intentionen unverträglich sein werde.
Ich traf am 24. gegen 2 Uhr Nachmittags ein. Um 3 fand
eine von mir berufene Ministersitzung statt. Herr von Boet-
ticher gab keine Andeutung, daß er über die Absichten des
Kaisers Näheres wisse, und auch die übrigen Minister ergingen
sich nur in Vermuthungen. Ich schlug vor und fand Einver-
ständniß darüber, daß wir den kaiserlichen Eröffnungen gegen-
über, wenn sie einschneidend sein sollten, uns vorläufig receptiv
verhalten wollten, um sie demnächst in vertraulicher Besprechung
unter uns zu discutiren. Der Kaiser hatte mich eine halbe
Stunde früher als die übrigen Minister, auf 51½ Uhr, bestellt,
woraus ich schloß, daß er die beabsichtigte Eröffnung vorher
mit mir besprechen wolle. Darin irrte ich mich; er gab mir
keine Andeutung dessen, was berathen werden sollte, und machte
mir, als das Conseil zusammengetreten war, den Eindruck, als
ob er eine für uns freudige Ueberraschung im Sinne habe. Er
legte zwei ausführliche Elaborate vor, das eine eigenhändig, das