Full text: Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung. Erster Band (A-K). (1)

Gemeindestimmrecht und Gemeindewahlrecht (in Landgemeinden). 
(Stimmrecht im engeren Sinne). Das Wahl- 
und Stimmrecht ist häufig nach der Steuer- 
leistung der Stimmberechtigten abgestuft. 
II. In den sieben östlichen Provinzen 
sowie in Schleswig-Holstein und Hessen- 
Nassau steht nach der LGO. vom 3. Juli 1891 
8 40, 45 48, bzw. der LGO. vom 4. Juli 1892 
§ 40, 45—48 und der L. vom 4. Aug. 1897 
88 10, 16—19 ein Stimmrecht in der Ge- 
meindeversammlung und ein Wahlrecht bei 
den Wahlen des Gemeindevorstehers und der 
Schöffen, wo aber eine Gemeindevertretung 
eingeführt ist, nur ein Wahlrecht bei den 
Wahlen der Gemeindeverordneten, allen im 
Besitz des Gemeinderechts befindlichen Ge- 
meindegliedern zu. Es kommt aber auch 
densenigen zu, die ohne Wohnsit im Ge— 
meindebezirk dort seit einem Jahre ein 
Grundstück besitzen, welches wenigstens den 
Umfang einer die Haltung von Zugvieh 
zur Bewirtschaftung erforderten Achernah- 
rung hat, oder auf welchem sich ein Wohn- 
haus, eine Fabrik oder eine andere gewerb- 
liche Anlage befindet, die dem Werte einer 
Achernahrung mindestens gleichkommt, sofern 
die betreffenden Besitzer die sonstigen persön- 
lichen Eigenschaften haben, von denen das 
Gemeinderecht gesetzlich abhängig ist. Ferner 
steht das Stimmrecht zu den juristischen Per- 
sonen, Aktiengesellschaften, Kommanditgesell- 
schaften auf Aktien, Berggewerkschaften, ein- 
getragenen Genossenschaften und dem Staats- 
fiskus, sofern sie Grundstücke von dem be- 
zeichneten Umfange in dem Gemeindebezirk 
besitzen. Endlich sind auch weibliche und nicht 
selbständige Personen stimmberechtigt, wenn 
der ihnen im Gemeindebezirk gehörige Grund- 
besitz zum Stimmrecht befähigt, sofern bei ihnen, 
abgesehen von dem Geschlecht und der Un- 
selbständigkeit, die übrigen persönlichen Vor- 
aussetzungen für das Gemeinderecht vorliegen 
(LöO. f. d. ö. Pr. und LO. für Schles- 
wig-Holstein § 45; LEO. für Hessen-Nassau 
§ 16). — Hinsichtlich der Zulässigkeit einer 
Stellvertretung bei Ausübung des Stimm- 
rechts gilt folgendes: Gemeindeglieder dürfen 
ihr Stimmrecht nur persönlich ausüben. Weder 
Krankheit noch Abwesenheit vom Wohnorte 
gibt ihnen die Befugnis, sich vertreten zu 
lassen. Die Stimmberechtigten, die nicht Ge- 
meindeglieder sind, können (mit Ausnahme 
der Forensen) ihr Stimmrecht nur durch männ- 
liche Vertreter ausüben. Hierbei werden Min- 
derjährige durch ihren Vater oder Stiefvater, 
Personen, die unter Vormundschaft oder Pfleg- 
schaft stehen, durch ihren Bormund oder Pfleger 
vertreten (wobei der Stiefvater vor dem Vor- 
munde zur Vertretung berufen ist), Ehefrauen 
durch ihren Ehemann, großjährige Besitzer vor 
vollendetem 24. Lebensjahre, unverheiratete 
Besitzerinnen und Witwen durch Gemeinde- 
glieder. Steht der Mutter die elterliche Ge- 
walt über den Minderjährigen zu oder ist eine 
weibliche Person Bormund, so kann sie die 
Vertretung nicht persönlich führen, ist aber 
befugt, hiermit ein Gemeindeglied zu beauf- 
tragen (OV#. 36, 167). Auswärts wohnende 
Über 24 Jahr alte männliche Stimmberechtigte 
und auswärts wohnende Vertreter Stimm- 
  
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berechtigter können das Stimmrecht persönlich 
ausüben, sind aber auch befugt, sich durch 
männliche Gemeindeglieder vertreten zu lassen. 
Auf Stimmberechtigte, die zwar auswärts 
wohnen, aber im Gemeindebezirk einen zweiten 
Wohnsitz haben, findet diese Vorschrift keine 
Anwendung (OWVG. 30, 154). Bei den Ge- 
meindewahlen hat die Vertretung durch ein 
Gemeindeglied zur Voraussetzung, daß dieses 
selbst als stimmberechtigt in der Wählerliste 
eingetragen steht (OB. 34, 152). Ein Stimm- 
recht der Frauen und unselbständigen Kinder 
besteht übrigens auch, wenn sie Forensen sind, 
dann nicht, wenn der Ehemann oder Vater 
gemeindeangehörig ist und ihm deshalb der 
Grundbesitz der Ehefrau oder des Kindes bei 
Feststellung seines eigenen Gemeinderechts an- 
gerechnet wird. Das Stimmrecht der nicht 
unter elterlicher Gewalt stehenden weiblichen 
Personen („Frauen") ist hiernach davon ab- 
hängig, daß sie entweder unverheiratet sind 
oder daß ihr Ehemann nicht Gemeinde- 
glied ist (OVG. 34, 142; 36, 165). Die Ver- 
tretung der suristischen Personen, einschließlich 
des Staatsfiskus, und der im Besitze des 
Stimmrechts befindlichen Personengesamtheiten 
erfolgt durch ihre verfassungsmäßigen Organe, 
Repräsentanten oder Generalbevollmächtigte, 
sowie durch Pächter oder -ießbraucher der zur 
Teilnahme am Stimmrechte befähigenden 
Grundstücke oder durch Gemeindeglieder. Zur 
Ausübung des Stimmrechts durch Vertreter 
ist erforderlich, daß der Vertreter sich im Be- 
sitze der deutschen Reichsangehörigkeit befindet, 
das 24. Lebensjahr zurückhgelegt hat und Reine 
Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln 
empfängt, sowie außerdem, daß der Vater die 
elterliche Gewalt besitzt und der Stiefvater das 
zum Stimmrecht befähigende Grundstück be- 
wirtschaftet. Ein nicht durch das Gesetz be- 
rufener, sondern von dem Stimmberechtigten 
beauftragter Vertreter bedarf einer Voll- 
macht. Eine Beglaubigung der Unterschrift 
kann nur gefordert werden, wenn begründete 
Zweifel an ihrer Richtigkeit bestehen (OV. 
8, 130). Blankovollmachten, in die der Name 
des Bevollmächtigten erst von dem Bevoll- 
mächtigten eingetragen wird, sind zulässig 
(OVG. 13, 219). Mehrere schriftlich Bevoll- 
mächtigte müssen sich untereinander über die 
Stimmenabgabe einigen (OV. 42, 120). — 
In der Gemeindeversammlung steht 
jedem Stimmberechtigten in der Regel eine 
Stimme zu. Diese Regel erleidet aber 
Ausnahmen dadurch, daß entweder eine Ver- 
minderung des Stimmrechts der Aichtange- 
sessenen oder eine Vermehrung des Stimm- 
rechts von Grundbesitzern und Gewerbetrei- 
benden eintritt. Es müssen nämlich mindestens 
zwei Drittel sämtlicher Stimmen auf die 
mit Grundbesitz angesessenen Mitglieder der 
Gemeindeversammlung entfallen. Ubersteigt 
die Anzahl der nichtangesessenen Gemeinde- 
gieder den dritten Teil der Gesamtzahl der 
timmen der Mitglieder der Gemeindever- 
sammlung, so haben die ersteren ihr Stimm- 
recht durch eine senen Verhältnissen entsprechende 
Anzahl von Abgeordneten auszuüben, welche 
sie aus ihrer Mlitte auf die Dauer von sechs
	        
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