286 I. 15. Die Reichslande Elsaß = Lothringen 1872—78. Die Einzelstaalen.
naten Gefängnis verurteilt, die leider nicht vollstreckt werden konnte. Auf Bismarcks
diplomatische Einsprache ward die französische Regierung veranlaßt, ihm wenigstens
ihre Mißbilligung auszusprechen. Die reichsländischen Pfarrer aber, welche den Hirten-
brief des Bischofs verlesen hatten, mußten persönlich dafür büßen.
Das hinderte nicht, daß die katholische Bevölkerung der Reichslaude sich unter Füh-
rung ihrer Hirten und Oberhirten massenhaft an den damals epidemisch auftretenden
Wallfahrten zu französischen Gnadenorten beteiligten, wobei die florumwallten Ban-
ner von Elsaß und Lothringen eine Hauptrolle spielten. Am 10. September 1873
führten die Bischöse von Straßburg und Metz ihre Schäslein sogar persönlich nach dem
Berge Sion in Französisch-Lothringen und beteten dort mit ihren Herden dasür: „daß
man von der Höhe des Berges in Zuluuft nicht mehr die Grenzen Frankreichs erblicke,
und daß die alte Größe Frankreichs bald wiederhergestellt werde“. Da Frankreich da-
mals mit einer Fülle von Wundererscheinungen begnadigt wurde, so durfte nicht
überraschen, daß die Jungfrau Maria auch in Elsaß-Lothringen sich gut dressierten un-
mündigen Kindern häusig zeigte, bald im Walde als Helferin beim Beerensuchen, bald
indem sie eine eigentümliche Neigung und Kunst offenbarte, auf Bäume zu steigen, und
daß plötzlich Krenze und blutende Herzen auf Fensterscheiben sich abmalten, bis die mili-
tärische Besetzung solcher Schwindelstätten ein für allemal jeder Erneuerung des Wun-
ders ein Ziel setzte. Gleichzeitig wurde in Straßburg eine förmliche ultramontan fran-
zösische Verschwörung eutdeckt, an deren Spitze der französische Generalvikar des
Bischofs, Napp, stand. Der Verein, den der ehrwürdige Herr leitete, nannte sich harm-
los genug einen „Verein zur Wahrung katholischer Interessen“. Aber dieser Verein
stand in unmittelbarer Verbindung mit religiösen Gesellschaften in Paris, empfing
von dort Weisungen und Geld. Sein Ziel war, die ganze katholische Bevölkerung des
Elsaß bei allen Wahlen des Landes nach dem Gebote des Generalvikars Napp im
Sinne der ultramontan-französischen Agitation mobil zu machen und inzwischen, um
keine Zeit zu verlieren, „sich auf die Schulfrage zu werfen“". In den Schreiben der
Vereinsmitglieder untereinander wurde die Negierung maßlos verleumdet. Sobald
die Regierung diese Beweise in Händen hatte, erhielt Napp am 17. März den Befehl,
binnen 24 Stunden das Gebiet von Elsaß-Lothringen zu verlassen. Fast zur näm-
lichen Zeit entdeckte man in Straßburg einen Zweigverein der löblichen Pariser Ge-
heimverbindung unter der Leitung des Marquis von Gonvello, welche sich die Auf-
gabe stellte, elsässischen Müttern ihre Kinder abzusangen, um sie in Frankreich erziehen
zu lassen. Daneben machte sich auch die „Pariser Liga für die Befreiung von Elsaß-
Lothringen“ in den Reichslanden fühlbar.
Höchst erfreulich war dagegen, daß trotz dieser wilden Wühlerei in den Neichs.
landen sich selbständig jene Gegenströmung regte, auf welche Bismarck schon 1871 in
seinen Reichstagsreden die größte Hoffnung auch für die geistige Wiedergewinnung jener
Gebiete gesetzt hatte: der Landespatriotismus, die Heimatsliebe und der Heimat-
siolz. Dieser Lokalpatriotismus war gerade durch die unfruchtbaren, die Interessen
der Gemeinden und des Landes direkt schädigenden Verhetzungen und Demonstrationen
der französischen und ultramontanen Partei erweckt worden. Zu den Franzosen zählte