38 I. 3. Erste Reichstagsverhandlungen und Reichsgesetzgebung (1871).
Gewalten nur irgend zuließ, geschah in der Richtung, die Versailler Regierung unter
Thiers zu stützen. Deutschland gestattete ihr die Heranziehung einer bedeutend größeren
Truppenzahl vor Paris, als nach dem Präliminarfrieden zulässig gewesen wäre, und
entband Frankreich von der in diesem Vertrage übernommenen Verpflichtung, die
französischen Kriegsgefangenen, d. h. die geübtesten Soldaten Frankreichs, welche
Deutschland in großen Massen nach Frankreich zurückkehren ließ, bis zum endgültigen
Friedensabschluß hinter der Loire festzuhalten (zu „internieren“). Weiter in dem
Streben, der französischen Regierung ihre Aufgabe zu erleichtern, konnte Demtschland
nicht gehen, ohne den eben erst vom Kaiser verkündeten Grundsatz der Nichteinmischung
in fremde Angelegenheiten zu verletzen und dadurch gerade, wie Bismarck am 1. April
im Reichstag trefsend bemerkte, „alle Teile gegen uns, ich will nicht sagen zu einigen,
aber doch einander zu nähern“. Immerhin dankte Frankreich einzig und allein dieser
entgegenkommenden Haltung Deutschlands die Möglichkeit, über 100,000 Mann
kriegsgeübter Truppen im Laufe des März und April gegen die Pariser Empörung
heranzuziehen. Und auch mit dem der Versailler Negierung höchst nachteiligen, von
der Pariser Kommune in ihrem amtlichen Blatie verbreiteten Lügemmärchen: die
deutsche Heeresleitung vor Paris habe der Konnunune eine „freundschastliche“ Haltung
zugesichert, räumte der sächsische General Fabrice durch eine amtliche Berichtigung
(rectification) dieser Fälschung im amtlichen Versailler Blatte sofort gründlich aus.
Deutschland hätte nun wohl billig erwarten dürfen, daß die Friedensverhand-
lungen in Brüssel um so schneller von der Stelle rücken würden. Aber das Gegenteil
trat ein. Dem gallischen Hahn schien plötzlich der Kamm wieder bedeutend geschwollen
zu sein. Am 4. Mai berichtete das Organ Bismarcks, die „Norddeutsche Allgemeine
Zeitung“, in einem Leitartikel genauer über die „Schwierigkeiten bei den Friedens-
verhandlungen in Brüssel“. Zu seinem großen Erstaunen und mit nicht geringer
Entrüstung erfuhr Deutschland aus dieser Darstellung, daß die Herren Franzosen in
Brüssel den den Versailler Friedenspräliminarien entsprechenden deutschen Vorschlag,
die Zahlung der Kriegsschuld von 5 Milliarden Frank am 2. Juni 1871 zu beginnen
und in gleichen baren Vierteljahrsraten bis zum 2. März 1874 abzutragen, beant-
wortet hatten durch einen Gegenvorschlag, „der nicht sowohl wie gezahlt, als darauf,
wie nicht gezahlt, wie die Zahlung hinausgeschoben und wenigstens zum Teil illusorisch
gemacht werden könnte, abzuzielen scheint“. Die französischen Unterhändler stellten
sich nämlich auf den Standpunkt der blanken Behauptung, daß in der ganzen Welt
die Barmittel für die von Deutschland verlangten Zahlungen nicht auszutreiben seien.
Sie maren so naiv, vorzuschlagen, sie wollten binnen drei Jahren eine einzige Mil-
liarde bar zahlen und die übrige Kriegsschuld dem deutschen Volke in Papier, in
französischen Rententiteln, aufhängen. Dagegen solle die deutsche Besetzung des fran-
zösischen Gebietes schon am 1. Juli 1871 anfhören. Damit wäre die französische
Kriegsentschädigung bei der Kursschwankung und möglicherweise gänzlichen Entwer-
tung der französischen Nententitel auf 3, höchstens 3 ½ Milliarde zusammen-
geschmolzen, wie die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ zutressend berechnete. „Wir
haben nun abzuwarten, ob die französische Nationalversammlimg diesen Versuch,