8 60. Staat und Kirche, 147
und Gewissensfreiheit an, die jetzt durch Beichs-
gesetz vom 3. Juli 1869 allen Deutschen gewährleistet
ist. Jeder kann glauben, was er will; „indessen kann
die religiöse Überzeugung weder die Begehung gesetz-
widriger Handlungen rechtfertigen noch von der Er-
füllung gesetzlicher Verbindlichkeiten befreien“ (Verf.
5 12). Dementsprechend steht auch der Austritt aus
einer Kirche jedem frei; Vorschriften, wie dieser Aus-
tritt zu vollziehen ist, fehlen. Die bürgerlichen und
staatsbürgerlichen Rechte sind unabhängig von dem
Bekenntnis: dieser Satz ist eine Errungenschalt des
19. Jahrhunderts; bis 1849 konnten J uden nicht Bürger
werden; für die Wahl in den Senat und zum Richteramf
war noch bıs zum Inkrafttreten des Bichsgesetzes
von 1869 Zugehörigkeit zu einer christli&hen Konfession
erforderlich.
2. Die großen Religionsgesellschaften — die
evangelische und römisch-katholische Kirche, sowie der
israelitische Kultus — nehmen vor anderen Vereimen
eine öffentlich-rechtliche Stellung ein. Sie haben
als „Kirchen“ Anspruch auf den diesen gesetzlich zu-
kommenden besonderen Schutz und etwaige Steuer-
befreiungen. Der Senat übt andererseits nach der
Verfassung $ 57c eine Aufsicht über sie und ihre Ver-
mögensverwaltung. Die Anerkennung einer neuen
Religionsgesellschaft mit öffentlich-rechtlicher Wirkung
hat durch Senat und Bürgerschaft zu erfolgen (Verf.
8 57d). Die Bildung anderer Religionsgesellschaften ist
nicht beschränkt und an keine Erlaubnis geknüpft; sie
unterstehen dem allgemeinen Vereinsrecht; so bestehen
mit Korporationsrechten die Baptistengemeinde „Bethel“,
ohne solche die Methodistengemeinde, Heilsarmee u. a.
Die weit überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung ist
evangelisch; in 1905 Evangelische 91,98%, Katholiken
6,72%, Israeliten 0,4100. Die dem Staat über die Kirchen
zustehenden Herrschaftsrechte werden als Kirchen-
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