9 218 Geschichtl. Entwicklung des Verhältnisses von Staat u. Kirche. 645
der Staat im Anfange der siebziger Jahre zu einer neuen Rege—
lung des Verhältnisses von Staat und Kirche genötigt sah, wurde
dan kirchlicher Seite immer von neuem der Vorwurf erhoben,
daß diese Gesetzgebung verfassungswidrig sei. Es wurde daher
zunächst durch die Verfassungsnovelle vom 5. April 1873u) dem
Nrt. 15 ein Satz zugefügt, welcher ausdrücklich die Unterwerfung
der Kirche unter die Staatsgesetze und die gesetzlich geordnete
Aussicht des Staates, dem Art. 18 ein Satz, welcher die gesetzlich
geregelten Rechte des Staates hinsichtlich der Vorbildung, An-
kllung und Entlassung der Geistlichen, sowie der Grenzen der
kirchlichen Disziplinargewalt vorbehielt. Da aber gleichwohl die
ragweite der Verfassungsartikel zu den verschiedensten Zweifeln
Anlaß gab, entschloß man sich endlich, durch die Verfassungs-
novelle vom 18. Juni 187512) die Art. 15, 16 und 18 der Ver-
sassungsurkunde überhaupt aufzuheben und die Regelung des Ver-
hälinisses von Staat und Religionsgesellschaften lediglich der
binzelgesetgebung zu überlassen.
Diese in einer Reihe besonderer Gesetze niedergelegte Rege-
lung des Staatskirchenrechts bezog sich, obgleich wesentlich durch
bas staatsfeindliche Verhalten der katholischen Kirche veranlaßt,
bis auf alle Religionsgemeinschaften, teils nur auf die christ-
lichen Kirchen überhaupt, teils auf die katholische Kirche allein.
Infolge des Widerstandes der katholischen Geistlichkeit gegen die
neue Gesetzgebung erwiesen sich weitere nur gegen die katholische
tirche gerichtete Gesetze erforderlich, die, bestimmt, jenen Wider-
and zu brechen, von Anfang an nur als vorübergehende Maß-
Uahmen in Aussicht genommen waren. Endlich ist seit dem Jahre
1880 durch eine Reihe einzelner Novellen auf Grund vorheriger
Verhandlungen mit der Kurie eine Nachprüfung der einzelnen
Gesetze sowohl derjenigen, welche sich auf die katholische Kirche
allein, als auch der, welche sich gleichzeitig auf andere Religions-
gemeinschaften bezogen, erfolgt. Im einzelnen wird auf diese ge-
amte Gesetzgebung, welche die Grundlage des heutigen Rechts-
zustandes bildet, in den folgenden Paragraphen zurückzu-
kommen sein.
JFur die evangelische Landeskirche erfolgte durch die vom
1) GS. 1873, S. 143.
12) GS. 1875, S. 269.