8 219 Der Staat und die Religionsgesellschaften überhaupt. 653
ist. Diese Frage ist zu verneinen. Der Zweck des Gesetzgebers
bei der Aufhebung der Verfassungsartikel war nach der Regierungs-
begründung nur, der staatlichen Gesetzgebung eine von Verfassungs-
schranken oder vielmehr von Verfassungsbedenken unbehinderte
Handlungsfreiheit zurückgegeben. In dem Gesetze selbst ist auch
nichts weiter zum Ausdrucke gelangt. Aufhebung der Aufhebung
ist überdies nicht schlechthin Wiederherstellung des früheren Rechts-
zustandes. Aber selbst wenn man das Gegenteil annehmen sollte,
sind die durch die Verfassungsurkunde aufgehobenen Einrichtungen,
wie z. B. das landesherrliche Placet, kraft eines festen Gewohn-
heitsrechtes auch nach Aufhebung der Verfassungsartikel beseitigt
gebliebenu#).
Das Rechtsverhältnis der Religionsgesellschaften zum Staate
richtet sich daher in erster Linie nach der neueren Sondergesetz-
gebung. Soweit durch diese ein Gegenstand nicht geregelt ist,
muß auf die älteren partikularen Rechtsquellen, namentlich das
A R. zurückgegangen werden, soweit dieses nicht durch die Ver-
sassungsurkunde aufgehoben war. An dieser Stelle ist das Staats-
kirchenrecht nur insoweit zu behandeln, als das Verhältnis aller
oder wenigstens ganzer Klassen von Religionsgesellschaften zum
Staate in Betracht kommt. Die Sonderrechte einzelner Religions-
gesellschaften, welche nur je einer einzigen eigentümlich sind,
bleiben dagegen den folgenden Paragraphen vorbehalten. Das
hier zu behandelnde allgemeine Staatskirchenrecht bezieht sich nun
entweder auf alle Religionsgesellschaften oder nur auf die mit
Korporationsrechten ausgestatteten oder nur auf die christlichen
ödder nur auf die öffentlich aufgenommenen. Nach diesem Geltungs-
Umfange der staatlichen Rechtsnormen gliedern sich die folgenden
Erörterungen.
1. Auf alle Religionsgesellschaften bezieht sich von den neueren
kirchenpolitischen Gesetzen das Gesetz vom 13. Mai 1873 üÜber
—
14) Das Gegenteil war in der 1. Aufl. ausgeführt.
15) Derselben Ansicht v. Rönne, Pr. Stf. Bd. 2, S. 381; H.
v. Schulze-Gaevernitz, Pr. StR. Bd. 2, S. 555; Hinschius,
Die preuß. Kirchengesetze der Jahre 1874 und 1875, Berlin 1875, S. XIX ff.
und bei Marquardsen a. a. O. S. 247 ff. mit der allerdings nicht
zutreffenden Begründung, die Verfassungsänderung könne nur für die
Zukunft wirken, also keine rückwirkende Kraft haben.