324 Gerhard Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Ländern 2). Sie sind, wie die ordentlichen Gerichte, unabhängig in der Ausübung ihres Berufes,
sodass sie, wie jene, nur dem Gesetz, nicht aber den Anordnungen der Verwaltung, insbesondere
nicht D.enstbefehlen vorgesetzter Behörden unterworfen sind. Was die Garantien der Unabhängig-
keit betrifft, so sind diese am stärksten ausgebildet bei den obersten Instanzen (Oberverwaltungsge-
richten, Verwaltungsgerichtshöfen), deren Mitglieder meist im Hauptamt auf Lebenszeit ange-
stellt sind und das volle Ausmass richterlicher Unabhängigkeit, ebenso wie die Mitglieder des Reichs-
gerichts, geniessen. Die Verwaltungsrichter der Unterinstanzen dagegen sind, soweit überhaupt
Beamte, nicht richterliche, sondern Verwaltungsbeamte, doch steht z. B. den besmteten Mitgliedern
der preussischen Bezirksausschüsse (mit Ausnahme des vorsitzenden Regierungspräsidenten)
das Privileg der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit in dem gleichen Masse wie den ordent-
lichen Richtern zu. Zu den Garantien der Unabhängigkeit gehört auch, wo sie vorhanden, die
Teilnahme unbeamteter Elemente (‚Laien‘) an der VG. Diese ist freilich nicht überall eingeführt:
nicht in Bayern, Sachsen, Württemberg, Elsass-Lothringen; dagegen verwenden Preussen,
Baden, Hessen das Laienelement in ausgedehntem Masse, allerdings nur in den Unterinstanzen,
während die oberste Instanz auch in diesen Ländern durchweg nur mit Berufsbeamten (des höheren
Verwaltungs- und Justizdienstes) besetzt sind.
Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. In Preussen wird die VG ausgeübt
durch die aus Beamten und Laien, mit numerischem Übergewicht der letzteren, gemischten
Kreisausschüsse (an deren Stellein den kreisfreien Städten Stadtausschüsse treten) und Be-
zirksausschüsse sowie durch das, wie angegeben, ausschliesslich aus Beamten bestehende
Oberverwaltungsgericht (Ges. betr. die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das Ver-
waltungsstreitverfahren v. 3. Juli 1875, Ges. über die allgem. Landesverwaltung v. 30. Juli 1883).
Die Kreisausschüsse erkennen stets in erster, die Bezirksausschüsse entweder in erster oder (als
Berufungsgerichte der Kreisausschüsse) in zweiter, das OVG stets in letzter (dritter, zweiter,
einziger) Instanz. Ähnlich, nur, vermöge des Fehlens der Mittelinstanz, einfacher ist, die
Organisation der VG in Baden und Hessen.
Bayern, Württemberg und Sachsen haben gemeinsam, dass sie die VG unterer Instanz
nicht an die aus Beamten und Laien gemischten neueren, sondern an die älteren, nur mit Beamten
besetzten Formationen des Behördensystems angeschlossen haben. Demgemäss erscheinen als Ver-
waltungsgerichte unterer Instanz in Bayern die Distriktsverwaltungsbehö und Kreisregierungen,
in Württemberg die Kreisregierungen, in Sachsen die Kreishauptmannschaften. Über diesen
Organen steht in allen drei Staaten der, häufig auch in erster und einziger Instanz er-
kennende, Verwaltungsgerichtshof (Sachsen: „Oberverwaltungsgericht‘).
2. Verfahren. — Die Justizförmigkeit der Verwaltungsgerichte zeigt sich ausser in ihrer
Organisation auch in ihrem Verfahren. Dieses, das „Verwaltungsstreitverfahren“
ist cine dem Verfahren der ordentlichen Gerichte, und zwar mehr dem Zivil- als dem Strafverfahren
nachgebildete Prozedur. Es ähnelt einem — stark vereinfachtem — Zivilprozess. Die Nachbildung
ist freilich keine vorbehaltlose Kopie, vielmehr musste der Umstand, dass bei den Gegenständen
der VG nicht nur das private, sondern stets auch das öffentliche Interesse beteiligt ist, zu erheb-
lichen Abweichungen von dem zivilprozessualem Vorbild führen. So ist die dem Zivilprozesse zu-
grundeliegende Verhandlungsmaxime (‚„quod non est in actis, non est in mundo“) für die VG
nicht brauchbar. An ihre Stelle tritt die Untersuchungsmaxime: die Entscheidungsgrundlage des
Verwaltungsrichters ist nicht das Parteivorbringen, sondern der von ihm selbständig und unab-
hängig von den Ausführungen der Parteien zu erforschende Sachverhalt. Allerdings ist der Ver-
waltungsrichter hinsichtlich seiner Entscheidungen nach dem Recht mehrerer Staaten (so Preussen,
Baden, dagegen nicht in Bayern und Sachsen) an die Anträge der Parteien gebunden (,,ne eat judex
ultra petita partinm‘). Der Prozessbetrieb ist nicht, wie im Zivilprozess, Sache der Parteien,
sondern des Gerichts, alle Ladungen, Zustellungen, Beweiserhebungen erfolgen von Amts wegen
(Offizialmaxime). Gemeinsam mit dem Verfahren der ordentlichen Gerichte sind dem Ver-
waltungsstreitverfahren die Grundsätze des beiderseitigen Gehörs, der Mündlichkeit und Öffent-
lichkeit. Doch gilt das Mündlichkeitsprinzip nur mit gewissen, partikularrechtlich verschieden