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der Freiheit des einzelnen schwebenden Streitfragen, ja geradezu
für „den Stein der Weisen in der Staatskunst“ 1) gehalten
wurde und durch rasche und weite Verbreitung der Welt und
nicht zum mindesten dem englischen Volk selbst den Glauben
gegeben hatte, als sei die unter unzähligen Kämpfen, unter
dem Einflusse bestimmter historischer Ereignisse und Persönlich-
keiten entstandene und entwickelte englische Verfassung eine so
folgerichtige Musterconstitution, wie wenn sie ein Staatsweiser
auf seinem Zimmer erdacht hätte.
Von dieser Doctrin war auch die Französische Revo-
lution ausgegangen, freilich ohne ihr treu zu bleiben; in
ihren positiven Gestaltungen erschien sie somit selbst nur, ob-
gleich sie sich frühzeitig der politischen Lehre eines Rousseau
und Sieyes zuwendete und rdadurch zu der Souveränetät der
Massen in einem vollständig demokratischen Repräsentativstaat
gelangte, als eins zwar der hervorragendsten, aber keines-
wegs der ersten Glieder in der langen Kette von Erfolgen,
welche Montesquien's Darstellung der englischen Verfassung)
in der politischen Literatur wie auf dem Gebiet des öffentlichen
Lebens errungen hatte. Vielmehr hatten schen vor dem Aus-
bruche der französischen Bewegung die Vereinigten Staaten
von Nord-Amerika sich eine Verfassung gegeben, die in streng-
ster Weise die Lehre Montesquien's von der Dreitheilung der
Staatsgewalt durchzuführen bestrebt war, und nur durch die
Beseitigung aller aristokratischen Elemente sowie durch die
Einsetzung eines außerordentlich beschränkten und überdies nur
auf Zeit gewählten Staatsoberhauptes von Montesquien's
1) R. v. Mohl, Eeschichte und Literatur der Staatswissenschaften,
I, 277.
2) Esprit des Lois, livre XI, chap. VI.