Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

DIE FLUCHT NACH HOLLAND 77 
begreiflich, daß Rosner die Herren der Umgebung des Kaisers nach der 
Beachtung einschätzt und schildert, die sie ihm zuteil werden ließen. Der 
Generaloberst von Plessen hat sich offenbar nicht viel um ihn gekümmert. 
Wohl darum schildert ihn Rosner als einen körperlich verbrauchten, 
geistig beschränkten, ziemlich albernen und dazu gefräßigen Herrn. 
General von Plessen war bis in seine letzten Dienstjahre ein körperlich 
elastischer, unermüdlicher und geradezu unverwüstlicher Generaladjutant 
mit besten Formen und normaler Intelligenz. Als solchen habe ich ihn viele 
Jahre gekannt. Er war weder Intrigant noch Schmeichler. 
Wie weit sind die Vorwürfe berechtigt, die anläßlich der Flucht Kaiser 
Wilhelms II. nach Holland gegen den Generaloberst von Plessen erhoben 
worden sind? Nach jener furchtbaren Katastrophe wurde erzählt, es sei 
der General von Plessen gewesen, der dem Kaiser zur Flucht, zu dem ver- 
hängnisvollen Entschluß des Übertritts nach Holland geraten oder wenig- 
stens es Seiner Majestät ermöglicht habe, diesen nicht wieder gutzu 
machenden Fehler zu begehen. Am Abend des 8. November 1918 habe 
Kaiser Wilhelm II. den Generalfeldmarschall von Hindenburg und die 
anderen bei ihm befindlichen Herren mit der Bemerkung entlassen, daß 
die Fortsetzung der Beratung am nächsten Morgen stattfinden solle. Am 
Morgen des 9. November hätten die sich wieder zum Vortrag meldenden 
Herren erfahren, der Kaiser wäre in der Nacht nach Holland abgereist. 
General von Plessen soll die nötigen Weisungen an das Eisenbahnpersonal 
und an die Dienerschaft in der Nacht erteilt und so die Hand zur Flucht 
geboten haben. Volle Wahrheit über diese unsäglich traurige Flucht wird 
wohl erst die Zukunft bringen. Aber selbst wenn General von Plessen einen 
diesbezüglichen kaiserlichen Befehl ausgeführt haben sollte, wäre es un- 
billig, deshalb über einen so lange im Dienst bewährten Offizier den Stab 
zu brechen. Fast 30 Jahre hatte er nie dem Kaiser widersprochen, fast drei 
Jahrzehnte hindurch war jeder Versuch, eine eigene Meinung zu äußern, 
vom Kaiser scherzhaft oder unwirsch abgewiesen worden. Gewiß hätte 
Plessen gut getan, in diesem fürchterlichen Moment der preußischen Ge- 
schichte den Kaiser beim Portepee zu fassen und ihm zu sagen, daß ein 
ehrenvoller Tod auf dem Schlachtfeld, und es wurde noch an der Front 
gefochten, für das Land, für die Dynastie und für den Kaiser selbst hundert- 
und tausendmal der Flucht vorzuziehen wäre. Aber eine solche Initiative 
war von einem so lange in Unselbständigkeit erhaltenen Begleiter nicht zu 
erwarten und nicht zu verlangen. 
„Schon ja die Hälfte der Tugend entrückt Zeus’ waltende Vorsicht 
Einem Mann, sobald nur der Knechtschaft Tag ihn ereilet!“ 
sagt bei Homer zum Odysseus der treffliche Sauhirt Eumäos. Kaiser
	        
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