86 UNTER DEM BILD NIKOLAUS’I
Katharina II. jener Rosenstrauch einmal eine herrliche Rose getragen
hätte. Damit sie nicht abgepflückt würde, hatte die Kaiserin dort einen
Posten aufstellen lassen, der nach einem halben Jahrhundert und länger
noch immer aufzog. Dem Fürsten Bismarck gefiel dieser Zug russischer
Subordination und des mechanischen Gehorsams. Er war, namentlich seit
seinem Ausscheiden aus dem Amte, mit seinem Souverän durchaus nicht
immer einverstanden. Er war auch der Meinung, daß dem Jupiter manches
gestattet sei, was dem „‚bos“ nicht zieme, und nahm für sich gelegentlich das
Recht weitgehender Kritik in Anspruch. Aber die Demokratie, was mit ihr
zusammenhing und an sie erinnerte, war dem Fürsten durch Erziehung und
Jugendeindrücke, nach seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Mentalität
unsympathisch, beinahe widerwärtig. Er wollte wohl gelegentlich nach
seinem Ermessen und in den von ihm bestimmten Dosen das demokratische
Gift anwenden, aber der preußische Staat und das deutsche Volkstum und
Wesen durften nicht von ihm verseucht werden.
Im Laufe des Tages vereinigten wir uns, Hohenlohe, Murawiew und ich,
zu einer Besprechung in dem Salon des Fürsten Hohenlohe, in dem ein
großes Bild des Kaisers Nikolaus I. hing, das hochmütig und streng auf
die Gegenwart herunterblickte. Als Fürst Hohenlohe das Gespräch sogleich
auf Ostasien lenkte, unterbrach ihn Murawiew, um ihm freundlich lächelnd
zu sagen, Kaiser Wilhelm habe dem Zaren in ihrer ersten Unterredung er-
öffnet, daß er nicht die Absicht habe, sich in Kiautschou festzusetzen. Er
überlasse diesen schönen Hafen gern seinem russischen Vetter und Freund
und bäte nur um die Erlaubnis, daß deutsche Schiffe dort einlaufen und
Kohlen einnehmen dürften. Der alte Hohenlohe hatte die ausgezeichnete
Eigenschaft, daß er sich nicht verblüffen ließ. Er war befangen, wenn er vor
ihm geistig an und für sich keineswegs gewachsenen Volksvertretern
sprechen sollte. Bei einer parlamentarischen Debatte war es ihm nicht
möglich, anders zu reden als mit einem Zettel in der Hand, auf dem er sich
alles sorgfältig notiert hatte. Seit der Novemberrevolution pflegen bei uns
fast alle Minister und Reichskanzler ihre Reden vorzulesen. Dabei passiert
es ihnen sogar gelegentlich, daß sie Wörter lateinischen oder gar griechischen
Ursprungs falsch aussprechen. Der sozialdemokratische Kanzler Bauer las
einmal eine ihm vom Ministerialdirektor Rauscher, einem typischen
Novembersozialisten, ausgearbeitete Rede vor, in der das Wort „Politiker“
vorkam. Mit Nachdruck und Pathos setzte er beim Vorlesen dieses Fremd-
wortes den Akzent auf die dritte Silbe. Als Rauscher dem Kanzler ver-
zweifelt ins Ohr schrie: „Politiker, Politiker!“ replizierte dieser unwirsch:
„Was wollen Sie denn, ich habe ja ganz richtig abgelesen.“ Heute würde
ein Kanzler, der in der Art des Fürsten Hohenlohe redete, kein Aufsehen
erregen. Vor 25 Jahren war man anspruchsvoller, und darunter litt das