496 HOLSTEIN UND RADOLIN
halber Engländer, der von vornherein von der unbedingten Superiorität
aller englischen Sitten und Unsitten, Einrichtungen und Anschauungen
überzeugt war und alles vom englischen Standpunkt aus betrachtete, gar zu
anglophil. Für die Franzosen eignete er sich besser mit seiner durch nichts
zu erschütternden Dickfelligkeit, die mit Humor gepaart und von bon sens
getragen war. Die Entsendung von Radolin nach Paris hatte mancherlei
Bedenken. Die Fürstin Radolin, eine geborene Gräfin Oppersdorf, hatte eine
französische Mutter, eine Talleyrand, und war mit einem großen Teil des
Faubourg Saint-Germain, insbesondere mit einigen politisch rührigen Mit-
gliedern der Familie Castellane, verwandt, was gegenüber dem in Frank-
reich herrschenden republikanischen Regime nicht ohne Gefahr war. Über
diese beruhigte mich freilich der damalige französische Botschafter in
Berlin, der alte Marquis de Noailles, mit den Worten: „Nos ministres actuels
savent ä peine qui fut Talleyrand! Quant aux Castellane, ils ne se doutent
pas m&me de leur existence.‘‘ Holstein drängte so unaufhörlich, daß ich
schließlich nachgab. Der eigenartige Mann hatte auch sentimentale Seiten.
Zu diesen gehörte eine fast schwärmerische Freundschaft für Radolin, mit
dem er in jungen Jahren als Student in Bonn zusammengetroffen war.
Der kränkliche Fritz von Holstein, der unter der Obhut seiner Mutter und
seiner Tante sich dem Bonner Studententreiben ebenso fernhielt wie den
Königshusaren, fühlte sich hingezogen zu dem jungen Polen, der ebenso
empfand. „Ich habe Sie nie um etwas gebeten“, sagte mir Holstein, „heute
komme ich mit einer innigen Bitte. Ich habe einen einzigen ganz guten
Freund, das ist Radolin. Setzen Sie seine Ernennung nach Paris durch,
wenn nicht für ihn selbst, so doch für mich. Ich war schon Geheimer Rat,
als Sie noch Attache waren. Heute sind Sie Reichskanzler und ich bin immer
noch Geheimer Rat. Wo ich für mich selbst weder Beförderung noch Orden
noch irgendwelche äußere Ehren will, welche die meisten anderen anstreben,
tuen Sie wenigstens etwas für meinen Freund.“ Als neun Jahre später
Holstein in Berlin starb, hatte Radolin, damals noch Botschafter in Paris,
wohl die Absicht, seiner Beerdigung beizuwohnen. Er setzte sich in Paris
in die Eisenbahn und fuhr bis Köln. Dort angelangt, dachte er mit dem Groß-
onkel seiner Frau, dem Fürsten Talleyrand, qu’il faut se mefier du premier
mouvcement, car il est le bon. Er erinnerte sich daran, daß Holstein bei
Seiner Majestät in Ungnade gefallen war, und kehrte in Köln wieder um.
So wurde Holstein, der in seiner mißtrauischen Launenhaftigkeit während
seines Lebens sich mit so vielen alten Freunden überworfen hatte, von seinem
vermeintlich einzigen wirklichen Freund nach seinem Tod im Stich ge-
lassen. Daß ich, seinem Drängen nachgebend, Radolin nach Paris setzte,
war übrigens einer der nicht wenigen Fehler, die ich mir in personalibus
vorzuwerfen habe. Radolin war so lange und so sehr gewohnt, sich von dem