MALWIDA, DIE IDEALISTIN 551
nicht so alt werden wie die Sibylle von Cumae, die schon 700 Jahre zählte,
als Aeneas sie aufsuchte, und dann noch drei Jahrhunderte lebte? Ich
denke oft an Sie. Was uns zu trennen scheint, gehört der Erscheinungswelt
an, was uns verbindet, ist unvergänglich.‘“ Sie antwortete mir in einem
längeren Brief, an dem sie mit Rücksicht aufihre vorschreitende Krankheit
fünf oder sechs Tage geschrieben hatte. Diese Antwort spiegelt den hohen
Geist dieser Frau so wundervoll wieder, daß ich sie folgen lassen möchte:
„Nein, lieber Freund, ich möchte nicht die 700 Jahre der Sibylle von Cumae
erleben, weil man, wenn man die Geschichte so aus der Vogelperspektive
sieht wie ich jetzt, es einsehen muß, daß in der Welt der Erscheinung die
Ideale nur wie Meteore vorüberziehen und nur in einzelnen, großen, reinen
Seelen zur Wirklichkeit werden. Es ist übrigens auch keine Wahrschein-
lichkeit, nicht einmal zu 300, denn der schwere Anfall dieses Winters
läßt sich noch nicht recht überwinden. Und nun zum Schluß noch eine
kleine Erzählung aus meinem tiefinnerlichsten Erleben, die kein Mensch
außer Ihnen kennen wird, da Sprechen über so etwas entweiht. Es sei aber
Antwort auf Ihre lieben Worte, daß, was uns verbindet, das Unvergäng-
liche ist, und zugleich ein Vermächtnis meiner Freundschaft für Sie, die
Sie, in wohl nicht zu fernen Tagen, wenn ich die Welt der Erscheinungen
verlassen habe, liebevoll an mich erinnern möge. In den schlaflosen Nächten
jetzt, während der schlimmsten Periode der Krankheit, war mein Geist
vollkommen klar und frei und beschäftigte sich mit den höchsten Lebens-
fragen. In einer Nacht, ganz besonders klar und bewußt, fühlte ich mich
wirklich wie allem Zeitlichen entrückt, im Urgrund des Seins höchster
Seligkeit genießend. Da war keine Form, kein Bild, der letzte Schleier war
noch nicht zerrissen, nur die Nähe der Vollendung war mir deutlich, und
ich fragte: Was ist es? Ist es die Liebe, die große, reine, erlösende ? Nein,
es ist noch viel höher, ward mir zur Antwort, es ist das Ewige, das allein
Wahre, das endlos Zeugende, das alles in sich Begreifende. Und ich
schwamm wie getragen auf Wellen unsäglicher Wonne, und plötzlich rief
es aus den Tiefen der Seele, des eigentlichen Selbst, das im Tageslärm so
selten zum Ausdruck kommt: Ich bete an!“ Dieser Brief war das letzte
Lebenszeichen, das ich von der „Idealistin“ erhielt.
Am Schluß des Jahres 1901 bekam ich ein persönliches Telegramm des
Königs Albert von Sachsen, in dem er mir den Wunsch aussprach, daß das
neue Jahr mich zum Wohl des Reichs in ungetrübter Kraft erhalten möge.
Wenige Monate später starb der edle und bedeutende König.