ENGLISCHE GEREIZTHEIT 47
bestand der Türkei wohl vereinbar, ein etwaiges Erscheinen der russischen
Flotte im Mittelmeer mochte für Frankreich, Italien, England unbequem
sein, uns konnte es gleichgültig lassen. Wir mußten weiter nicht nur in
Worten, sondern auch tatsächlich Rußland davon überzeugen, daß wir
uns unserer Solidarität mit ihm in der polnischen Frage bewußt wären und
nicht daran dächten, die polnische Karte gegen Rußland auszuspielen.
Von einem französischen Historiker, der die preußisch-russischen wie die
russisch-französischen Beziehungen zu seinem Spezialstudium erwählt
hatte, von Albert Vandal, war das Wort geprägt worden, daß die Teilung
Polens die blutige Wiege, „le berceau sanglant‘, der preußisch-russischen
Freundschaft gewesen wäre. Wir mußten endlich in Petersburg immer
wieder in geeigneter Weise darauf hinweisen, wie viele gemeinsame
dynastische Interessen die beiden Regierungen und Reiche gegenüber
revolutionären Gefahren verbänden. Denn es lag für den Weiterblickenden
auf der Hand, daß, wie auch ein Krieg zwischen den beiden nordischen
Reichen endigen möge, die Dynastien höchstwahrscheinlich die Zeche
bezahlen würden.
Auch das Verhältnis zu England war für uns von überragender Wichtig-
keit. England vermochte nicht wie Rußland die deutsche Eiche an der
Wurzel zu treffen. Es konnte aber viele edle Zweige abhauen und schönes
Laubwerk vernichten. Es konnte uns unsere Kolonien entreißen, unsere
Schiffahrt und unseren Handel zerstören und damit Milliardenwerte. Ich
war immer überzeugt, daß, solange wir ein freundnachbarliches Verhältnis
zu Rußland aufrechtzuerhalten verstanden, England uns nicht angreifen
würde. Aber ich habe nie daran gezweifelt, daß, wenn wir mit Rußland an-
einander kämen, die englische Politik, die mit beinahe unfehlbarem
Instinkt das für England Nützliche tut, im Falle eines deutsch-russischen
Krieges eine solche Gelegenheit nicht versäumen würde, die stärkste Macht
auf dem Kontinent und damit den traditionellen Gegner Englands, vor
allem aber seinen größten Rivalen in Schiffahrt und Handel zu vernichten.
Gerade im Sommer 1897 hatten große englische Blätter Angriffe gegen
Deutschland gebracht, die nicht als vorübergehende Stimmungen und als
papierner Lärm beiseite geschoben werden konnten, denn aus ihnen
sprachen jene englische Selbstsucht und unbeirrbare Realpolitik, die im
letzten Ende immer die englische Außenpolitik bestimmt haben. Als in den
achtziger Jahren die deutsche Industrie einen stärkeren Aufschwung nahm
als den englischen Monopolisten erwünscht war, zeigte sich der Durch-
schnitts-Engländer schon beunruhigt. Die Krüger-Depesche vom 3. Januar
1896 zerriß den freundlichen Schleier, der bis dahin das tatsächlich seit
lange nicht besonders herzliche Verhältnis zwischen den beiden germanischen
Vettern verhüllt hatte. Als ich zur Leitung der auswärtigen Politik berufen
Deutschland
und England