Bilanz 1905
82 IM REICHSKANZLERPALAIS
und erheiternd.“ Kaiser Wilhelm II. hielt es mehr mit Eduard, der nie dazu
kommen konnte, seine Papiere nach Fächern abzuteilen, und auch Geschäfte
und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam von-
einander absonderte.
Während meiner ganzen Amtszeit habe ich daran festgehalten, von Zeit
zu Zeit in der Stille meines Schreibzimmers in Ruhe und Sammlung die
internationale Situation wie unsere innere Lage durchzudenken. Wenn je
ein Jahr, so bot das Jahr 1905, das unter für die Mentalität Wilhelms II. so
bedeutungsvollen Auspizien begonnen hatte, hierzu Anlaß. Die alten
schönen Bäume im Garten des Reichskanzlerpalais, unter denen die erste
Liebe unseres guten alten Kaisers, die Prinzessin Elise Radziwill, träumte
und litt, auf denen das Auge des Fürsten Bismarck geruht hat, sind mir
Zeugen, wie oft ich mit ernsten und schweren Sorgen um Sicherheit und
Zukunft des Vaterlandes auf sie geblickt habe. Wie jeder, der im öffent-
lichen Leben gestanden hat, habe ich geirrt. Als der vielerfahrene und
menschenkundige König Salomo den Tempel zu Jerusalem einweihte,
wandte er sein Angesicht und segnete die ganze Gemeinde Israel und sprach
zu ihr: „Es ist keiner, der nicht sündigt.‘“ Das gilt von den Fürsten und
Staatsmännern unserer Tage noch viel mehr als von den Zeitgenossen des
Monarchen, dessen Weisheit größer war denn aller Ägypter Weisheit, der
3000 Sprüche redete, 1005 Lieder dichtete und alle Bäume kannte, von der
Zeder auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Wand wächst. Aber wenn
ich meine Fehler und Irrtümer in keiner Weise beschönigen will, so gibt es
doch einen Vorwurf, der mir bisweilen, aber mit großem Unrecht, gemacht
worden ist, nämlich die Behauptung, daß ich, ein Lächeln auf den Lippen,
in immer gleich strahlender Heiterkeit meines Amtes gewaltet hätte. Die
von mir in ihrer künstlerischen Bedeutung nicht unterschätzte Karikatur
hat gegenüber der geschichtlichen Wahrheit manches auf dem Kerbholz.
Impressionistisch wie keine andere Kunstart, hat sie aus mir den heiteren
Lebenskünstler, hat sie später aus Bethmann Hollweg den tiefsinnigen
Philosophen gemacht. Ich war ebensowenig ein Epikuräer wie Bethmann
ein Kantianer, der zu diesem Epitheton nur kam, weil unsere Witzblätter
ihn wieder und immer wieder mit der „Kritik der reinen Vernunft‘ unter
dem Arm darstellten. Ich bin während meiner zwölfjährigen Amtszeit in
Berlin selten ohne ernste Sorgen aufgewacht und habe mich nur zu oft,
wenn die Nacht sich niedersenkte, sorgenvoll auf das Lager gestreckt.
Aber ich war allerdings der Meinung, daß der leitende Staatsmann eines
großen Landes nicht wie ein bedrückter Aktuarius dreinschauen und unseren
Gegnern entgegentreten soll, und ich war vor allem der Ansicht, daß es
besser ist, den Hektor zu spielen als die Kassandra, daß-das englische „‚never
say die‘ ein gutes Wort ist, daß, um unseren größten Dichter anzurufen: