Vermittlung
im Ruhrgebiet
9% BERGARBEITERSTREIK
Die erste innerpolitische Frage, die meiner Aufmerksamkeit bedurfte,
war der drohende Bergarbeiterstreik. Unter den Bergarbeitern des Ruhr-
reviers zeigte sich seit Anfang Januar 1905 eine starke Gärung. Sie klagten
über das Sinken der Löhne in den letzten Jahren, namentlich darüber, daß
die Ein- und Ausfahrt nicht in die Arbeitszeit mit eingerechnet würde,
über hohe Geldstrafen, rigoroses Wagennullen, aber auch über schlechte
Behandlung von seiten ihrer Vorgesetzten. Am 14. Januar 1905 streikten
schon 60.000, acht Tage später 200000 Bergarbeiter von 270000. Der Kaiser
neigte zu der Ansicht, daß wir in den Streik nicht eingreifen und namentlich
nicht vermitteln sollten. Je toller es im Ruhrgebiet hergehe, um so besser,
das würde die Bourgeoisie klüger und vorsichtiger machen. Das würde ihr
zeigen, daß er, der Kaiser, als er in seiner berühmten Bielefelder Rede für
jeden, der einen deutschen Arbeiter am Arbeiten hindere, Zuchthausstrafe
verlangt habe, ganz recht gehabt hätte. Er vertrat mit einem Wort den
Standpunkt, den er seinerzeit lebhaft bekämpft hatte, als nicht lange vor
dem Rücktritt des Fürsten Bismarck zwischen dem großen Kanzler und
dem Kaiser wegen der Arbeiterfrage im allgemeinen und insbesondere
wegen des damaligen Streiks im Ruhrrevier die Ansichten weit auseinander-
gingen. Bei aller Bewunderung für den Fürsten Bismarck konnte ich mich
der Auffassung, die er im Frühjahr 1890 in der Arbeiterfrage vertreten
hatte, nicht anschließen. Amicus Plato, amicior veritas. Jedenfalls fand ich
die Taktik, die fünfzehn Jahre früher mit dem Gründer des Reichs vielleicht
triumphiert hätte, für 1905 nicht angebracht. Ich entsandte den Oberberg-
hauptmann von Velsen in das Streikgebiet, um eine Verständigung herbei-
zuführen. Er begegnete bei den Zechenbesitzern schrofler Ablehnung. Sie
erklärten, daß sie unter keinen Umständen mit der Gesamtheit der Arbeiter
verhandeln wollten, sondern nur Unterhandlungen zwischen einzelnen
Zechen und einzelnen Arbeitern admittierten. Einige der großen Arbeit-
geber wiesen dem Oberberghauptmann, zu dem sie früher in freundschaft-
lichen Beziehungen gestanden hatten, die Tür. Infolge dieser schroffen
Haltung der Arbeitgeber wandten sich die Sympathien mehr und mehr
den Arbeitnehmern zu. Der Erzbischof Fischer von Köln schenkte den
Christlichen Gewerkschaften Mk. 1000.—, der Evangelisch-soziale Kongreß
forderte zur Unterstützung der Arbeiter auf, ohne deshalb alle ihre Forde-
rungen billigen zu wollen.
Mitte Januar kam die Frage im Reichstag zur Erörterung. Ich nahm
keinen Anstand, zu erklären*, daß nach meiner Auffassung die Behörden
bei Streiks eine doppelte Pflicht zu erfüllen hätten. Sie müßten dafür ein-
stehen, daß Ordnung und Ruhe aufrechterhalten blieben und die Gesetze
* Fürst Bilows Reden, Große Ausgabe II, S.151 ff., 203 £., 219 ff., 224 ., 233 ff.; Kleine
Ausgabe III, S. 205 ff., 285 ff., 292 ff., 298 ff., 306 ff., 317 £.