Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

108 DIE KRIEGSFRAGE 
Marokkanischen Kaiserreichs, das heißt dessen Herabdrückung zum Va- 
sallenstaat in der Art von Tunis. Wir waren nicht um unsere Ansicht gefragt 
worden. Es war nicht einmal die Rücksicht geübt worden, den Vertrag von 
1904, nachdem er den Parlamenten in Paris und London vorgelegt worden 
war, auch in Berlin und Wien mitteilen zu lassen. 
In Marokko selbst spitzten sich die Dinge immer schärfer zu. Am 
21. Februar 1905 war der französische Gesandte Saint-Rene Taillandier in 
Fez eingetroffen und hatte vom Sultan kategorisch, „en termes pressants‘* 
verlangt, dieser solle seine Truppen von französischen Offizieren ausbilden, 
auch die Zölle unter Aufsicht französischer Oberbeamten eintreiben lassen. 
Der Sultan, zu dem der französische Vertreter du haut en bas, wie zu einem 
Vasallen, gesprochen hatte, wandte sich an die deutsche Regierung und 
frug insbesondere, ob die Behauptung Taillandiers, daß er seine Forderun- 
gen nicht nur als französischer Gesandter, sondern im Namen Europas 
stelle, der Wahrheit entspreche. Gegenüber dieser Kette französischer 
Herausforderungen erschien es mir notwendig, in Paris wieder das Deutsche 
Reich in Erinnerung zu bringen. 
Es war nicht sowohl die Größe unserer wirtschaftlichen und politischen 
Interessen in und an Marokko, die mich bestimmte, dem Kaiser zu Wider- 
stand und Abwehr zu raten, sondern die Überzeugung, daß wir uns gerade 
im Interesse des Friedens derartige Provokationen nicht länger gefallen 
lassen dürften. Damals so wenig wie vorher oder nachher wollte ich den 
Krieg mit Frankreich, schon weil ich wußte, daß jeder ernstliche Konflikt 
in Europa, wie die Verhältnisse lagen, zum Weltkrieg führen würde. Aber 
ich scheute mich nicht, Frankreich vor die Kriegsfrage zu stellen, weil ich 
mir das Geschick und die Kraft zutraute, es nicht zum Äußersten kommen 
zu lassen, wohl aber Delcasse zu Fall zu bringen, damit den aggressiven 
Plänen der französischen Politik die Spitze abzubrechen, Eduard VII. und 
der Kriegsgruppe in England ihren festländischen Degen aus der Hand zu 
schlagen und so gleichzeitig mit dem Frieden die deutsche Ehre zu wahren 
und das deutsche Ansehen zu stärken. In meinem Entschluß wurde ich 
durch den Brief eines alten und zuverlässigen Pariser Freundes bestärkt, 
desselben, der mich sieben Jahre früher über.den Windsor-Vertrag orientiert 
hatte. Er war von Geburt Schweizer, wir hatten uns in Lausanne kennen- 
gelernt. Später ließ er sich in Paris nieder. Er hegte lebhafte Sympathien 
für Frankreich, ebenso für England, das er häufig besuchte und wo er iin den 
besten Kreisen verkehrte. Aber alles trat bei ihm zurück hinter seinem auf 
tiefster Überzeugung beruhenden, beinahe leidenschaftlichen Pazifismus. 
Er wurde nicht müde, die entsetzlichen Konsequenzen zu schildern, die, 
wie die Dinge in der Welt lägen, ein großer Krieg nach sich ziehen würde. 
Ein solcher würde alle bösen Leidenschaften und Triebe der Menschheit
	        
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