Beginn der
russischen
Revolution
160 MASSAKER UND DIKTATUR IN PETERSBURG
Das Jahr 1905 hatte für Rußland damit begonnen, daß der Präsident
der Moskauer Semstwos, Fürst Trubetzkoi, in einem offenen Schreiben an
den Minister des Innern, den eher liberal gesinnten Fürsten Mirski, die
Notwendigkeit von Reformen betonte, „um eine Revolution zu vermeiden“.
Es folgten zahlreiche Kundgebungen der Arbeiterschaft wie der „Intelli-
genzia“ für konstitutionelle und administrative Reformen. Die Polizei
schritt vergeblich dagegen ein. Stärkeren Eindruck machte auf den Zaren,
daß bei dem jedes Jahr am Epiphaniastage stattfindenden Feste der Was-
serweihe, die vom St. Petersburger Hof seit jeher mit besonderem Glanz
gefeiert wurde, in das Zelt, unter dem sich der Kaiser mit dem Hof auf dem
Eise der Newa versammelt hatte, beimSalutschießen plötzlich mehrere
Kartätschkugeln einschlugen. Es ist niemals festgestellt worden, wie es
möglich war, daß dieser Scharfschuß abgefeuert werden konnte. Drei Tage
später folgte ein blutiger Zusammenstoß zwischen Militär und einer Massen-
deputation streikender Arbeiter, die von dem Popen Gapon, einem aus-
gesprungenen Priester, geführt wurden. Die Arbeiter, an deren Spitze Gapon
mit dem orthodoxen Kreuz in der einen Hand, ein Bild des Zaren in der
anderen, marschierte, wollten im Winterpalais eine Bittschrift überreichen,
die alle jene Wünsche und Grundrechte aufzählte, welche die Demokratie
des Westens seit langem erreicht hatte, die aber in Rußland nie öffentlich
verlangt worden waren und die übrigens nach erfolgtem Umsturz von der
siegreichen Revolution mit Füßen getreten werden sollten: Freiheit des
Worts, Gewissensfreiheit, Gewährleistung des Versammlungsrechts, Ga-
rantien der persönlichen Sicherheit, eine Volksvertretung, Gleichbeit aller
vor Gericht, Verantwortlichkeit der Minister, obligatorischer Schulbesuch
auf Staatskosten, Einkommensteuer usw. Dazu traten neue sozialistische
Forderungen, wie Achtstundentag, Streikrecht, Vorkehrungen gegen die
Bedrückungen der Arbeiter durch das Kapital. Ein rasch herbeigeholtes
Garderegiment verhinderte die Demonstranten, bis zum Winterpalais zu
gelangen. Es gab mehrere Tausende von Toten. Unter den Verhafteten
befand sich der talentvolle Dichter Maxim Gorki, dessen „Nachtasyl“ auch
in Deutschland, meisterhaft gegeben, viel Interesse erregt hatte. Acht-
undvierzig Stunden nach diesem Zusammenstoß wurde in St. Petersburg
die Militärdiktatur erklärt, an deren Spitze General Dimitrij Fedorowitsch
Trepow trat. Er war eine echt russische Erscheinung. Sein Vater war als
ausgesetztes Kind auf der Treppe eines reichen deutschen Kaufmanns in
Wassily-Ostrow gefunden worden, der ihm den Namen Trepow (Treppauf)
beilegte. Er kam später in das Kadettenkorps, brachte es in der Armee bis
zum Obersten und wurde als solcher unter Kaiser Alexander II. Polizei-
präsident von Petersburg. Das Attentat, das Vera Sassulitsch 1875 gegen
ihn gerichtet hatte, bezeichnet den Beginn der modernen, von unten auf-