DER ZAR MACHT FRIEDEN 169
der als Jurist zu tüchtig war, um ein brauchbarer Diplomat zu sein. Da
endlich die ängstliche Eifersucht von Radolin durch den damaligen Bot-
schaftsrat in Paris, Hans von Flotow, dessen dienstliche Tüchtigkeit und
politische Befähigung nicht auf der Höhe seiner Neigung zu Intrigen
standen, noch erheblich verstärkt wurde, so herrschte gerade bei der Be-
handlung der so eminent wichtigen Marokko-Frage unter den Dii minorum
gentium ein bedauerliches Durcheinander. Ich schrieb darüber an den
Staatssekretär: „Besten Dank für die Nachrichten über den Fortgang der
Marokko-Angelegenheit. Für unsere Weltstellung wie für die Stimmung in
Deutschland ist es von entscheidender Bedeutung, daß wir anständig aus
dieser Frage herauskommen. Vorbedingung bierfür ist, daß alle Beteilig-
ten — Rosen und Kriege, Radolin und das Amt — unter Zurückdrängung
kleinlicher persönlicher Gesichtspunkte nur an das Vaterland und sein
Wohl denken. Darauf müssen Sie kinwirken, und in dieser Richtung werde
ich Sie, wenn es nötig werden sollte, mit rücksichtsloser Entschiedenheit
unterstützen. Ich dulde jetzt keine Quertreibereien und persönliche Emp-
findlichkeiten.“
Die russische Widerstandskraft gegenüber den Japanern näherte sich
inzwischen ihrem Ende. Da sich gleichzeitig die innere Lage des großen
Reichs immer bedrohlicher gestaltete, entschloß sich Kaiser Nikolaus zum
Frieden, obwohl die meisten älteren Ratgeber des Zaren, viele Generale
und insbesondere der Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch, davon abrieten.
Es war, wenn auch mühsam, gelungen, in Moskau eine Erhebung, die keine
Revolte mehr war, sondern eine sozialistische Revolution, in mehrtägigem
Straßenkampf niederzuwerfen. Die Versuche der Polizei, die Erregung der
Massen auf die Juden abzulenken, unter denen entsetzliche Metzeleien an-
gerichtet wurden, schadeten dem zaristischen System bei allen Gebildeten
und menschlich Empfindenden, obne der Autokratie mehr als vorüber-
gehende Entlastung zu verschaffen. In einem ad hoc einberufenen Kronrat
gab der Zar für die Friedenspartei den Ausschlag. Er entschloß sich auch,
den ihm persönlich antipatbischen Witte mit den Friedensverhandlungen
zu betrauen, die unter amerikanischer Ägide in Portsmouth, einem ameri-
kanischen Städtchen nördlich von Boston, im Staate New Hampshire,
stattfanden. Witte zeigte sich als ein Friedensunterhändler ersten Ranges.
Obwobl er schlecht Englisch sprach, gelang es ihm doch durch sein impo-
nierendes Äußeres, die slawisch-russische Leichtigkeit seiner Umgangs-
formen und die Unermüdlichkeit, mit der er Händedrücke austeilte, durch
sein ganzes Auftreten sich in Amerika rasch Bewunderung und Sympatbhien
zu erwerben. Er hat mir später selbst erzählt, daß er an jenem Nachmittage
stundenlang jeden, der sich meldete, empfangen und so viele Shake-hands
ausgetauscht habe, daß ihm hinterher die ganze Nacht seine rechte Hand
Der Friede
von Ports-
mouth