198 SOZIALISTEN ABSCHIESSEN — KRIEG NACH AUSSEN!
Sultan müsse coüte que coüte erreicht werden, ebenso mit „allen arabischen
und maurischen Herrschern‘“. Bevor ein solches Bündnis mit dem Islam
nicht perfekt wäre, dürften wir nicht losgehen. Allein könnten wir über-
haupt nicht gegen England und Frankreich Krieg führen, wenigstens nicht
zur See. Die letzteren vier. Worte hatte Seine Majestät dick unterstrichen.
Übrigens sei das Jahr 1906 zum Kriegführen besonders ungünstig, weil
wir gerade in der Neubewaflnung unserer Artillerie begriffen wären, die
mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen würde. Auch die Infanterie sei
in der Neubewaffnung begriffen, bei Metz wären viele unvollendete Forts
und Batterien. Die Hauptsache aber wäre, daß wir wegen unserer Sozia-
listen keinen Mann aus dem Lande nehmen könnten ohne äußerste Gefahr
für Leben und Besitz der Bürger. „Erst die Sozialisten abschießen, köpfen
und unschädlich machen, wenn nötig per Blutbad, und dann Krieg nach
außen. Aber nicht vorher und nicht a tempo!“ Der Kaiser forderte mich in
diesem Brief schließlich auf, die auswärtige Politik so zu führen, daß uns
„so weit als irgendmöglich und jedenfalls für jetzt‘ die Kriegsentschei-
dung erspart würde. Es dürfe aber nicht aussehen „wie ein Faschoda“.
Aus jeder Zeile dieses Briefes sprach die Angst des Kaisers vor Kricg. Allein
dieser Brief widerlegt die von unseren Feinden im Weltkrieg und auch nach
dem Weltkrieg vorbereitete Lüge, daß Wilhelm II. den Krieg absichtlich
herbeigeführt hätte. Er war beinahe zu friedfertig, insofern er seine Scheu
vor jedem ernstlichen Konflikt für schärfer blickende Beobachter allzu
deutlich durchschimmern ließ, und das bisweilen unmittelbar nachdem er
fremde Völker und Potentaten, die öffentliche Meinung in allen Ländern
durch Großsprechereien gereizt oder durch taktlose Entgleisungen vor den
Kopf gestoßen hatte. Als mich der Kaiser bei der Neujahrscour von 1906
mit besorgter Miene frug, was ich zu seinem Silvesterbrief meine, entgegnete
ich ihm: Ich hätte seinerzeit lebhaft bedauert, daß er der schönen Feier
ferngeblieben wäre, dieam 9. Mai, dem hundertjährigen Todestag Schillers, in
Berlin stattgefunden habe. Bei dieser Feier wäre nach einer erhebenden Rede
von Erich Schmidt das Reiterlied aus Wallensteins Lager gesungen worden:
Und setzet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch das Leben gewonnen sein.
Wenn wir uns erfüllten mit dem Schillerschen Geist, der recht eigentlich
der deutsche Geist, der idealistische deutsche Geist wäre, und wenn wir
uns dabei mit dem in der Politik gebotenen Sinn für Realitäten vor Fall-
stricken und Fallgruben unserer Gegner hüteten, wäre kein Anlaß zum
Verzagen oder gar zum Verzweifeln. Gewiß wollten wir nicht ä la Vogel
Strauß den Kopf in den Sand stecken, aber wir brauchten auch nicht den
Kopf zu senken, und vor allem dürften wir nicht den Kopf verlieren.