Holsteins
Abschieds-
gesuch
214 STURZ HOLSTEINS
Renvers. Letzterer erschien sehr bald, untersuchte mein Herz, ließ mich
einige Gehversuche machen und sagte mir dann ernst und bestimmt:
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Ehrenmann, daß es nur eine Ohn-
macht, in keiner Weise ein Schlaganfall war. Daß Sie sich übergeben haben,
kommt nur daher, daß man Ihnen unsinnigerweise alles mögliche Zeug in
den Hals gegossen hat. Sie werden in kurzer Zeit völlig wiederhergestellt
sein, aber Sie müssen Ruhe und vor allem Schlaf haben.“ Der Kaiser, dem
mein Unfall telephonisch mitgeteilt worden war, erschien sogleich im Reichs-
tag, den er sonst nie zu betreten pflegte, sprach in herzlichster, rührender
Weise meiner Frau seine Teilnahme aus und wollte mich durchaus sehen,
was aber Renvers als gewissenhafter Arzt nicht zuließ. Renvers fuhr mit
mir und meiner Frau nach dem Reichskanzlerpalais, wo er mich ins Bett
steckte und mir für vier bis fünf Tage jede andere Beschäftigung als die
Lektüre illustrierter Zeitungen verbot. Dann durfte ich Romane lesen,
deren ich während der folgenden Wochen eine ganze Reihe verschlang,
darunter ganz hübsche. Betreut und mit selbstloser Aufopferung gepflegt
wurde ich in diesen Tagen von der langjährigen Kammerfrau meiner Frau,
die heute noch in unseren Diensten und von dem Tage nicht mehr fern ist,
an dem sie auf fünfzig Jahre in unserem Hause zurückschauen kann. In
ihrer Hingabe, ihrer Umsicht und Opferfähigkeit ersetzte sie jede Berufs-
pflegerin. Frau Luise Cholin, von meiner Frau mehr als Freundin denn als
Dienerin behandelt, ist ein seltener Charakter. Unermüdlich in Pflicht-
erfüllung, nur ihrem Dienste und ihrer Familie lebend, stellt sie den besten
Typus einer guten deutschen Frau dar, die sie, die Tochter des Breisgaues,
auch geblieben ist, nachdem sie Monsieur Cholin, unsern langjährigen Koch,
geheiratet hatte.
Meine Ohnmacht war der ungewollte Anlaß für den politischen Tod des
Geheimen Rats von Holstein, der bis dahin so viele Stürme, alle Fährnisse
überstanden hatte. Sein Sturz beweist, daß der Krug in der Tat so lange zu
Wasser geht, bis er bricht. Er hatte sich, wie schon bemerkt, wie mit vielen
anderen so auch mit dem Staatssekretär von Richthofen auf die Länge nicht
vertragen können. Als mir am 17. Januar 1906 der Tod diesen ausge-
zeichneten, klugen und treuen Mitarbeiter entrissen hatte, war es nicht
leicht, einen Nachfolger zu finden, der gleichzeitig seinem Amt gewachsen,
Seiner Majestät genehm und Holstein nicht zu ungenehm war. Der Kaiser
lehnte sowohl Mühlberg wie Kiderlen ab, die übrigens Holstein beide auch
nicht wollte. Seine Majestät wünschte seinen treuen „Mimile“, wie er, ich
weiß nicht weshalb, Tschirschky zu nennen pflegte. Holstein befürwortete
mit Enthusiasmus diesen Wunsch Seiner Majestät, zu meinem Befremden,
denn er pflegte im allgemeinen sich immer in Gegensatz zum Kaiser zu
stellen. Sein, wie oft, verschlungener Gedankengang war der folgende: