Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

236 DIE REICHSVERDROSSENHEIT 
keiten, der Gang der Weltgeschichte, was die Griechen die ‚Ananke‘ 
nannten, zwischen zwei Völkern ein solches Verhältnis herbeiführen, wie 
es zwischen uns und Frankreich nun einmal der Fall ist, so muß man das in 
Kauf nehmen, wie man elementare Ereignisse mit in Kauf nimmt. Aber sich 
künstlich einen mächtigen Gegner zu schaffen — ich wiederhole —: das 
ist ruchlos und dumm. Wir haben zahlreiche Berührungspunkte mit Eng- 
land. England ist für unsere Ausfuhrindustrie der größte Abnehmer und der 
beste Zahler. Es hat uns bisher seine Häfen und seinen Handel eröffnet 
wie seinen eigenen Angehörigen. Wir streiten gemeinsam mit England für 
Handelsfreibeit in fremden Ländern. Gewiß gibt es Punkte, wo zwischen 
Deutschland und England Friktionen denkbar wären, es gibt sogar Fragen, 
wo es gegenseitigen Entgegenkommens bedarf, um Reibungen zu vermeiden. 
Es gibt aber nach meiner Ansicht keinen Punkt, wo sich bei gegenseitigem 
gutem Willen, mit Ruhe und dem nötigen doigt€ nicht zwischen deutschen 
und englischen Interessen auf einer friedlichen und gerechten Basis ein 
Ausgleich finden ließe. Das ist meine wohlerwogene Überzeugung. 
So lange ich am Steuer stehe, werde ich festhalten an meiner bisherigen 
Politik. Wenn wir Rußland nicht durch Kokettieren mit den Polen miß- 
trauisch machen, ihm nicht an den Dardanellen, dem Herzstück des Bis- 
marckschen Rückversicherungsvertrages, entgegentreten und wenn wir im 
Orient die habsburgische Monarchie von abenteuerlichen Ak- 
tionen gegen die Balkanvölker (Rumänien, Montenegro, Serbien) ab- 
halten,Aktionen, von denen ehrgeizige k.und k. Generalstäbler und hitzige 
Magyaren träumen, die dem alten Kaiser Franz Josef aber im Grund gar 
nieht liegen und seinem antiungarischen, slawophilen Thronfolger auch 
nicht, Aktionen, die Rußland nach seiner Geschichte und seinen Tradi- 
tionen nicht zulassen kann, 80 sehe ich keinen Grund, warum wir nicht den 
Frieden bewahren sollten, dessen Aufrechterhaltung in unserem Interesse 
liegt. Den Frieden zu erhalten, wäre unsere erste Aufgabe und wäre für uns 
ein Bedürfuis, sagte vor genau vierzehn Jahren Bismarck, den ich noch 
einmal zitieren will, zu schwäbischen Verehrern, die ihm in Friedrichsruh 
huldigten (vielleicht waren Dätzinger und Böblinger unter ihnen). Das gilt 
auch heute für unsere Politik. 
Noch ein Wort über die ‚Reichsverdrossenheit‘. Ich verstehe es, wenn die 
Sozialdemukraten mit der Feder und dem Munde bestrebt sind, solche 
Reichsverdrossenheit zu züchten. Das liegt in ihrem Programm, in ihrem 
Wesen. Die Unzufriedenheit ist der Nährboden, ohne den sich der Bazillus 
der Sozialdemokratie gar nicht entwickeln kann. ‚Die verdammte Zu- 
friedenheit!‘ meinte, von seinem Standpunkt mit Recht, schon Ferdinand 
Lassalle. Was ich weniger verstehen kann, ist die Hypochondrie und Nörgel- 
wut, mit der Nichtsozialdemokraten und Patrioten par excellence hinter
	        
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