DIE „WAHREN“ PATRIOTEN 237
jedem, auch dem unbedeutendsten Vorfall her sind, um unsere Zustände
schwarz in schwarz zu malen. Und das sage ich mit aller Bestimmtheit,
daß solche Gehässigkeiten und Übertreibungen von nationaler Seite
mindestens ebenso schädlich wirken wie die sozialdemokratischen Treibe-
reien und Tiraden. Je mehr nach oben das Vertrauen untergraben wird,
desto mehr Sozialdemokraten entstehen unten. Wie soll uns das Ausland
achten, wenn diejenigen, die sich bei uns als die wahren Patrioten, als die
Hüter des vaterländischen Feuers betrachten und aufspielen, sich gar nicht
genug tun können im Herunterreißen unserer Verhältnisse, im Nachweisen
von Mißerfolgen und mit wahrer Wollust jeden Fehler aufkauschen, immer
alles in pejus drehen und hinstellen ? Dieses Sichselbsterniedrigen und Sich-
zerfleischen ist eine Krankheitserscheinung, deren Verbreitung sich leider
auf Deutschland beschränkt. Nur der deutsche Vogel beschmutzt in dieser
Weise sein Nest. Wo findest Du das anderswo? Gibt es nicht auch anderswo
Unvollkommenheiten, Fehler und Mißstände in Hülle und Fülle?! Sie
werden aber nicbt derartig in die Öffentlichkeit gezerrt, nicht in so künst-
licher Vergrößerung vorgeführt wie bei uns. Ich denke bisweilen an das
Wort von Treitschke, der Deutsche im Inland möge für deutsche Zustände
nur einen kleinen Teil des Verständnisses zeigen, das der Deutsche im Aus-
land so gern ausländischen Zuständen entgegenbringt. Sieht es im Ausland
wirklich so viel besser aus als bei uns? Ich möchte die Konservativen
sehen, wenn sie plötzlich nach den Vereinigten Staaten versetzt würden,
oder die Herren vom Zentrum im kirchenfeindlichen Frankreich oder die
Herren Sozialdemokraten nicht nur in Rußland, sondern auch in England
und Italien, wo es kein allgemeines, gleiches, direktes, geheimes Wahlrecht
gibt, in Frankreich, wo noch immer die Einkommensteuer nicht existiert,
in Amerika, wo man mit den Schülern von Marx wenig Federlesen macht.
Wenn das Ausland uns nach unserem eigenen Urteil über unsere inneren
Zustände beurteilt, so muß es einen schönen Begriff von uns bekommen,
Was soll man dazu sagen, wenn große deutsche Blätter, von dem Spieß-
bürger auf der Bierbank gar nicht zu reden, über den angeblichen deutschen
„Militarismus‘ sich das Maul zerreißen, während die Franzosen, die ich fast
ebensogut kenne wie meine eigenen Landsleute, im Grunde, im innersten
Kern viel militaristischer sind als wir! Was soll das Geschrei über den
deutschen ‚Imperialismus‘, der im Vergleich zu dem englischen Im-
perialismus und Marinismus sehr harmlos ist! Wir liefern durch unsere
übertriebene, ungezügelte Selbstkritik fortgesetzt dem Ausland Waffen,
und wirksame Waffen, gegen uns.
Ich bin mehr in die Länge und Breite gegangen, als dies ursprünglich
meine Absicht war. Das kommt vom Diktieren! Der ‚Diktator‘ wird gar zu
leicht redselig und weitschweifig. Vielleicht macht sich auch bei mir schon