8 DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE
angelegt oder gar begabt zu sein, betet mancher deutsche Philister das Wort
des Faust nach: „Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.“ In
Wirklichkeit ist die Bedeutung des Worts ungeheuer groß. Ich glaube, daß
wir im Jahre 1906 nicht einen so glänzenden Sieg über die Suzialdemokratie
erfochten haben würden, wenn meine vorher gehaltenen und in Millionen
von Exemplaren verbreiteten Reichstagsreden nicht das Terrain vorbereitet
hätten. Wenn ich die Sozialdemokratie bekämpfte, so geschah dies nicht aus
Mangel an Verständnis für den berechtigten Kern ihrer Bestrebungen. Noch
weniger aus dem Gesichtswinkel eines beschränkten Aristokratendünkels
oder gar aus irgendwelchen selbstsüchtigen Motiven. Ich war überzeugt,
daß die Herrschaft der Sozialdemokratie gerade in Deutschland das Ende
der Größe, Macht und Wohlfahrt des Deutschen Reichs bedeuten würde.
Nicht nur die Schwächen, auch die Vorzüge des deutschen Charakters
machen die Sozialdemokratie für Deutschland besonders gefährlich. Der
Deutsche ist doktrinärer als irgendein anderes Volk. Er versteht es viel
weniger als der Engländer, Franzose und Italiener, sich in praktischen
Fragen von den Netzen der Theorie zu befreien. Er geht in seinem Doktrina-
rismus mit dem Kopf durch die Wand. Als während meiner Amtszeit in
Bern ein internationaler Kongreß zum Zweck der Regulierung der Frauen-
und Kinderarbeit stattfand, sagte der französische Delegierte, der spätere
Präsident der Französischen Republik, Alexandre Millerand, damals einer
der Führer der französischen Sozialdemokraten, meinem Bruder Alired,
der deutscher Gesandter in Bern war: „Zügeln Sie doch Ihre Geheimen Räte,
die man aus Berlin zu diesem Kongreß hierhergesandt hat. Die sind ja
doktrinärer und unpraktischer als unsere törichtsten sozialistischen
Schwärmer. Que diable, avant tout i} faut que l’industrie marche.‘“ Der
Typus Millerand, Briand, Albert Thomas, Livyd George, Crispi, Fortis,
d. h. der Typus des Demagogen, der sich allmählich zu einem verständigen
Staatsmann durchmausert, findet sich immer von neuem und zum Wohl
dieser Länder in Frankreich, England, Italien. In Deutschland ist er selten.
Wir haben in Deutschland noch keinen Clemenceau gehabt, der, Minister
geworden, auf streikende Arbeiter schießen ließ und, gegenüber diesem
grausamen Vorgehen an frühere arbeiterfreundliche Reden erinnert, kühl
erwiderte: „A present je suis de l’autre cöt& de la barricade.‘“‘ Vor allem ist
das Nationalgefühl bei unseren Nachbarn viel, unendlich viel stärker als
bei uns. Der französische Sozialist will, daß auch ein sozialistisch organi-
siertes. Frankreich in Europa dominieren soll, schon weil Frankreich, das
Frankreich von 1789, „la m&re de la revolution“ ist. Gerade so wie der
französische Klerikale fordert, daß Frankreich als „Als aine de l’Eglise“
die katholische Welt beherrsche. Der französische Sozialist sucht eich
emporzuheben aus dem Dunst der Niederung, der deutsche will die anderen