Die polnische
Frage
244 DIE BALTISCHEN PROVINZEN ANGLIEDERN
wird in der nahen Zukunft vor ganz andere Aufgaben gestellt werden wie
heute.“ Freiherr von Jenisch hatte hinzugefügt, es unterläge für ihn keinem
Zweifel, daß dieser Ideengang des Kaisers die Fulge seiner Gespräche mit
Schiemann sei. Schiemann hatte sich Jenisch gegenüber schon vorher in
ähnlichem Sinne geäußert. Dieser hatte ihn dringend davor gewarnt, dem
Kaiser solche Vorschläge zu machen oder Ratschläge zu geben. Schiemann
hatte das auch fest zugesagt, aber sein Versprechen nicht gehalten.
Herr von Jenisch fuhr in seiner Meldung fort: „Ich habe dem Kaiser
gesagt, daß, wie mir Kapitän Hintze versichert, von einer Gravitie-
rung der deutschen Elemente in den baltischen Provinzen bisher nichts zu
merken sei und daß Schiemann die Verhältnisse in den Ostseeprovinzen
sehr einseitig zu beurteilen scheine. Wie mir Admiral von Müller erzählt,
fängt der Kaiser an ungeduldig darüber zu werden, daß aus Peterhof noch
keine bestimmten Mitteilungen über die Absichten des Kaisers Nikolaus
hinsichtlich einer Begegnung mit ihm eingetroffen sind. Seine Majestät
wollten daher dort telegraphisch anfragen. Ich habe Admiral von Müller in
seiner Ansicht bestärkt, daß ein solcher Schritt notwendigerweise in Peter-
hof den Eindruck hervorrufen würde, als ob uns besonders an der Begeg-
nung gelegen sei und wir in diesen kritischen Zeiten den Zaren zum Ver-
lassen seines Reichs bewegen wollten. Das werde dann wieder wie schon
früher politisch gegen uns ausgenutzt werden. Der Kaiser hat sich nunmehr
damit einverstanden erklärt, daß Kapitän Hintze, der nach den Festlich-
keiten in Drontheim nach Petersburg zurückkehrt, sich unter der Hand
nach den Absichten des Zaren erkundigt. Prinz Heinrich hat neulich in Kiel
mich dringend ersucht, Dich zu bitten, Du möchtest Tirpitz in seinem Amt
zu erhalten suchen. Der Kaiser sei von irgendeiner Seite gegen ihn beein-
flußt worden und habe ihm, Prinz Heinrich, wiederholt gesagt, Tirpitz sei
mit an Deiner Erkrankung schuld. Das habe Prinz Heinrich gleich zurück-
gewiesen, ebenso die Insinuation, daß Tirpitz Reichskanzler werden wolle.
Er, der Prinz, kenne Tirpitz viel zu genau, um uicht zu wissen, daß er nie-
mals solche Ambitionen haben würde. Leider sei Tirpitz von Charakter sehr
mißtrauisch und übelnehmerisch. Der französische Jachtbesitzer Mönier,
derselbe, der vor vier Jahren Waldeck-Rousseau an Bord hatte, wurde mit
zwei schönen jungen Frauen und seiner sonstigen Begleitung ganz besonders
vom Kaiser ausgezeichnet. Er plädierte für einen Zusammenschluß der
europäischen Mächte gegen Amerika und für einen Besuch des Kaisers in
Paris. Seine Majestät hat übrigens den Wunsch ausgesprochen, daß seine
sämtlichen Gäste, mit der Gesandtschaft 34 Personen, zu dem Galadiner
in Drontheim eingeladen werden.“
Der von mir bereits mehrfach erwähnte Professor Theodor Schiemann
gehörte zu denjenigen Balten, die alle Vorgänge und Verhältnisse, die ganze