Wilhelm II.
an
Goluchowski
224 DER „BRILLANTE SEKUNDANT“
sischen Kultur. Sie wollen nicht so arbeiten wie wir und haben
recht. Man kann der deutschen Regierung nicht dringend genug diesen
Wunsch ans Herz legen. Es gibt gegenwärtig keine ernstere Frage auf dem
Globus.“ So schreibt ein deutscher Ästhet, während die Franzosen am
deutschen Rhein stehen, während sie uns den letzten Groschen abpressen,
uns mit sadistischer Grausamkeit quälen, uns mit Füßen treten! Ja, es
gibt eine Niedrigkeit der Gesinnung, die nur in Deutschland möglich ist!
Wie anders der Franzose mit seiner von Eitelkeit nicht freien, aber darum
nur um so leidenschaftlicheren Vaterlandsliebe, der Engländer mit seinem
oft selbstsüchtigen, nicht selten heuchlerischen, aber robusten und uner-
schütterlichen Patriotismus, der Italiener mit seinem Slancio, seiner feu-
rigen Liebe zur Heimat!
Aber je mehr den tiefer und schärfer blickenden Vaterlandsfreund die
noch immer nicht überwundene Schwäche des deutschen Nationalgefühls,
der Mangel des Deutschen an patriotischer Selbstdisziplin, an nationalem
Ehrgefühl, oft genug selbst am einfachsten Geschmack, schon 1906 be-
kümmern mußte, um so wünschenswerter war es, daß der Kaiser durch
Vernunft und durch Würde vorbildlich wirkte, daß er wenigstens sich keine
Blößen gab. „Il fallait a l’Allemagne un chef grave, silencieux, constant et
mesure“, hatte im Frühjahr 1904 ein französischer Publizist, Henri de
Noussanne, in einer Studie über Wilhelm II. geschrieben, an der auch andere
französische Schriftsteller beteiligt waren, die aus der Beobachtung deut-
scher Zustände und Persönlichkeiten ihr Spezialstudium gemacht hatten,
„mais le Destin a donne aux Allemands un maitre qui s’imagine que des
paroles et des gestes suffisent a conduire les hommes. Encore faut-il
approprier les paroles et les gestes a l’£poque et aux circonstances. En
r&alite, aucun chef d’Etat couronn& n’a fait plus de mal ä la monarchie que
Guillaume Il.“ Kaum vierundzwanzig Stunden nach meiner Erkrankung
im Reichstag hatte Wilhelm II. an den österreichisch-ungarischen Minister
des Äußern, den Grafen Goluchowski, ein Telegramm gerichtet, das mit den
Worten schloß: „Sie haben sich als brillanter Sekundant erwiesen und
können gleicher Dienste in gleichem Falle auch von mir gewiß sein.“ Das
im Ton allzu burschikose Telegramm rief durch seinen Inhalt in Wien Ver-
legenbeit, in Budapest Verwahrungen, in dem uns ungünstig gesinnten
Ausland Gelächter und ironische Kommentare hervor. Im Herbst sollte
mit der sogenannten Schwarzseher-Rede eine noch ärgere Entgleisung
folgen. Ich machte den Kaiser brieflich darauf aufmerksam, daß ich bei
der Wiedereröffnung des Reichstags im Spätherbst Mühe haben würde,
sein Sekundanten-Telegramm zu vertreten. Der Kaiser ging auf die Sache
nicht weiter ein, aber am 18. Juni traf er unvermutet zur See in Norderney
bei mir ein. Er hätte mich am liebsten ganz unerwartet überrumpelt, da