Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

270 „DEN KAISER SCHONENI!" 
Wir müssen uns jeder Drohung, jeder Provokation des Reichstags wie ein- 
zelner Parteien und überbaupt aller demonstrativen Schritte enthalten, 
Herausforderungen, Beleidigungen und Unrecht müssen auf der Seite 
unserer Gegner sein, auf unserer Seite ruhige und besonnene Festigkeit. 
Insbesondere darf von der Absicht, eintretendenfalls den Reichstag aufzu- 
lösen, bevor die Auflösung erfolgt, nach keiner Seite hin das mindeste ver- 
lauten.“ Eine solche Mahnung zur Reserve und Vorsicht erschien mir bei 
dem Naturell Seiner Majestät geboten. Der Kaiser schrieb ad marginem 
meines Briefes an ihn: „Einverstanden! Sie haben Meine vollste Billigung 
und Meine Autorisation auch zu dem ernstesten Schritt.“ Ich war durch 
diese Beurteilung der Lage seitens Seiner Majestät nicht überrascht, aber 
ich las dieses Marginal cum grano salis wie alle kaiserlichen Randvermerke. 
Ich wußte, daß es leicht war, Wilhelm II. für kühne Ideen und Pläne zu 
begeistern, aber schwer, sodann von ihm ein stetiges und mutiges Weiter- 
gehen auf dem einmal eingeschlagenen Wege zu erreichen. Überdies hatte 
mir gerade an dem Tag, wo ich die Allerhöchste Zustimmung zu einer 
eventuellen Auflösung des Reichstags erbat, die Kaiserin in ihrer rührenden 
Sorge für ihren hohen Gemahl geschrieben: „Ich möchte Sie darauf auf- 
merksam machen, daß der Kaiser, obgleich wohl aussehend, doch vor Auf- 
regungen geschützt werden muß. Ich bin überzeugt, daß der Kaiser in 
einiger Zeit seine volle Frische wiederhaben wird, aber jetzt muß er noch 
geschont werden. Der Kaiser ist durch all die politischen Aufregungen und 
wirklich sehr verletzenden Dinge mehr angegriffen, als man nach außen 
denkt. Ich habe keine Gelegenheit gehabt, Sie in diesen Tagen zu sehen, 
daher entschuldigen Sie diese flüchtigen Zeilen.“ Die Nerven Seiner 
Majestät mußten berücksichtigt und geschont werden. Schon deshalb war 
ich bestrebt, bei einem vielleicht bevorstehenden Kampf die Person Seiner 
Majestät aus der Schußlinie zu bringen. 
Ich wollte dem Kaiser die Möglichkeit wahren, im Fall eines unglück- 
lichen Ausgangs des Konflikts sich von mir zu trennen und ohne Schädigung 
der kaiserlichen Stellung und Autorität mit einem anderen, z. B. mit Posa- 
dowsky, weiterzuregieren. Von meinen Kollegen standen Posadowsky und 
Tirpitz, die beide seit langem gewohnt waren, der eine seine Sozialpolitik, 
der andere den Bau seiner Flotte mit dem Zentrum zu betreiben, einer Auf- 
lösung des Reichstags ablehnend gegenüber. Namentlich Posadowsky 
erhob alle möglichen, auch formalen Bedenken und wünschte, daß wenig- 
stens die Auflösung nicht vor Weihnachten stattfinde. Auch nach voll- 
zogener Auflösung sah er dem Wahlkampf voll Besorgnis entgegen. Der 
preußische Minister des Innern, Herr von Bethmann Hollweg, hielt sich, 
bevor mein Entschluß gefaßt war, vorsichtig zurück. Sobald ich mich ent- 
schieden hatte, stellte er sich mit Begeisterung hinter mich. Er schrieb mir,
	        
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