Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

286 KEINE SCHARFMACHERPOLITIK MEHR 
wirtschaftslehre‘“ ist mir, um mit Tukydides zu reden, ein xrjua Es all 
geworden, ein Besitztum für immer. Seine treffliche Studie über die Epochen 
der preußischen Finanzpolitik hat vieles in mir angeregt und geklärt. 
Der Schwabe Schmoller war ähnlich wie der Sachse Treitschke, wie die 
Hannoveraner Scharnhorst und Hardenberg, wie der an der Lahn geborene 
Freiherr vorn und zum Stein tieferin Wesen und Geist des preußischen Staats 
eingedrungen als mancher geborene Preuße. Die Stärke von Schmoller 
bestand darin, daß er unser politisches Leben, unser Parteileben, unsere 
wirtschaftlichen Verhältnisse, vor allem die preußische Verwaltung aus der 
Nähe kennengelernt hatte, daß er mit Miquel und Althoff, mit Thiel und 
Lohmann, mit Klemens Delbrück und Berlepsch, mit Möller und dem 
Kölner Oberbürgermeister Becker, mit meiner Wenigkeit in langjähriger 
Fühlung stand, daß er im Staatsrat und in vielen vorbereitenden Ver- 
waltungs- und G t l ‚ bei vielen Enqueten, im 
Herrenhaus als Vertreter der Berliner Universität einen unmittelbaren 
Einblick in das Räderwerk der Staatsuhr gewonnen hatte. Ein Quenichen 
Anschauung wiegt bekanntlich schwerer als ein Zentner von Vorstellungen. 
Er schrieb mir nach dem Ende des Wahlkampfes am 10. Februar 1907: 
„Es drängt mich an dem ersten ruhigen Tage, den ich habe, nun doch dazu, 
Ihnen zu gratulieren, Ihnen zu sagen, wie sehr ich glaube, daß das ganze 
deutsche Volk Ursache hat, Eurer Durchlaucht zu danken. Die Auflösung 
war die Tat Ihres Mutes, Ihr genialer Blick hat das gute Resultat voraus- 
gesehen, während die meisten Patrioten es nicht zu wagen hofften. Die 
richtige Einschätzung der Imponderabilien, die die Zukunft bestimmen, 
macht das Wesen des erfolgreichen Staatsmanns aus. Sie haben zugleich 
durch diesen Erfolg einen wichtigen Teil Ihrer inneren Politik so glänzend 
gerechtfertigt, wie es kaum jemand so rasch zu hoffen gewagt hätte. Es ist 
der Teil, wegen dessen ich und alle vernünftigen Sozialreformer Sie so 
hoch schätzen. Die Niederlage der Sozialdemokratie zeigt heute aller Welt, 
wie richtig Ihre Abweisung der Scharfmacherpolitik, der Ausnahmegesetze 
war. Sie haben durch die der Sozialdemokratie beigebrachte Niederlage 
auch das Beste dafür getan, daß mit der Zeit eine innere Umbildung der- 
selben, eine vernünftigere Führung möglich wird, daß die Gewerkschafts- 
bewegung sich rascher von den fanatischen revolutionären Führern der 
Sozialdemokraten loslösen wird, daß die nicht sozialdemokratischen 
Arbeiterorganisationen Luft bekommen und wachsen werden. Daß Ihnen 
diese Hintanstellung einer Scharfmacherpolitik seit dem Antritt Ihres 
hohen Amtes gelang, ist Ihnen um so höher anzurechnen, als Sie zugleich 
genötigt waren, die Konservativen wieder regierungsfreundlicher zu machen, 
und ihre Hauptführer doch nicht auf die Hauptministerstellen setzten. 
Sie mußten — da nun einmal bei uns eine parlamentarische Regierung nicht
	        
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