328 FÜR UNS LÄUFT DIE ZEIT
mit uns und sucht, ohne eigentlich kriegerische Absichten gegen uns zu
hegen, nach deckenden Freundschaften. Frankreich will korrekte Bezie-
hungen und selbst einen Modus vivendi mit uns. Doch sind die Revanche-
träume, das Verlangen nach Wiedergewinnung der Hegemonie, die es zwei
Jahrhunderte hindurch in Europa ausgeübt hat, und selbst der Wunsch
nach der Rheingrenze in Frankreich noch keineswegs erloschen. Für uns
läuft — schon aus dem biologischen Grunde der in Frankreich bekanntlich
nahezu stationären, bei uns aber im ganzen noch immer zunehmenden Be-
völkerungsvermehrung — die Zeit. Je weiter wir den Zeitpunkt eines be-
waflneten Konflikts mit unserem westlichen Nachbarn hinausschieben,
um so weniger wird dieser imstande sein, den schon numerisch immer un-
gleicher werdenden Kampf mit uns, selbst bei Unterstützung von anderer
Seite, aufzunehmen. Unsere Politik gegenüber Frankreich ist uns damit
gegeben: sie muß dilatorisch sein und irritierende Reibungen vermeiden.
Dagegen würde jedes direkte oder indirekte Anerbieten eines intimen Ver-
hältnisses zu Frankreich heute dort nur falsch verstanden werden und das
Gegenteil von einer Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen zur Folge
haben. Für unsere Haltung im Orient und speziell auf der Balkanhalbinsel,
wo wir nur wirtschaftlichen Interessen nachgehen, sind und bleiben in
erster Linie maßgebend die Wünsche, Bedürfnisse und Interessen des uns
eng befreundeten und verbündeten Österreich-Ungarn. Aus der vorstehend
skizzierten Konstellation, die ich nicht anstehe als eine für die beiden mittel-
europäischen Monarchien in gleichem Maße ernste zu bezeichnen, ent-
springen nach Ansicht der kaiserlichen Regierung die nachstehenden Folge-
rungen für unsere politische Haltung. Unsere auswärtige Politik wird wie
bisher, bei aller Entschlossenheit in der Wahrung unserer Rechte und be-
rechtigten Interessen, Gelegenheiten sorgsam vermeiden, die andere Mächte
zu dem Versuche der Bildung von übermächtigen Koalitionen gegen uns
anreizen könnten. Deshalb wird die Reichsleitung sich z. B. ein Nachgeben
gegenüber chauvinistischen Bestrebungen, mögen sie von alldeutscher oder
sonstiger Seite kommen, entschieden zu versagen und ihre Aufgabe vor-
nehmlich in der Verteidigung unserer Rechte und berechtigten Interessen
zu erblicken haben, indem sie den weiteren Ausbau unserer wirtschaftlichen
Stellung, wenigstens eine Zeitlang, mehr der deutschen Privatinitiative
überläßt und die fördernde staatliche Hand dabei nach außen hin tunlichst
im Hintergrunde hält. Ich darf dabei darauf hinweisen, daß ich in der ersten
Rede, die ich als Staatssekretär des Auswärtigen Amts vor dem Reichstag,
am 6. Dezember 1897, über auswärtige Politik gehalten habe, sagte: Wir
empfänden nicht das Bedürfnis, unsere Finger in jeden Topf zu stecken,
seien aber der Ansicht, daß es sich nicht empfehle, Deutschland in zukunfts-
reichen Ländern von vornherein auszuschließen vom Mitbewerb mit anderen