Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DIE SERBEN TOBEN 337 
hatte, nicht sofort frug, wann der k. und k. Minister den von ihm ange- 
kündigten Schritt zu unternehmen gedenke. Er mußte auch sogleich darauf 
hinweisen, daß er Zeit brauche, das von den früheren russisch-österreichi- 
schen Abmachungen nichts ahnende russische Publikum und den davon 
auch nicht viel wissenden Zaren auf den österreichischen Schritt vorzu- 
bereiten. Aber Iswolski hat, als Aechrenthal am Abend des 16. September 
von Buchlau nach Wien zurückkehrte, während sein russischer Kollege erst 
am nächsten Morgen das mährische Schloß verließ, sicherlich nicht ange- 
nommen, daß der k. und k. Minister schon nach kaum drei Wochen die 
Welt mit der Annexion von Bosnien und der Herzegowina überraschen 
würde. 
Die vom 5. Oktober 1908 datierte Proklamation des Kaisers Franz 
Josef erschreckte Europa wie ein plötzlicher Donnerschlag. Die Serben 
tobten, der serbische Kronprinz stellte sich an die Spitze der Demon- 
stranten und erklärte, daß er bereit sei, mit allen Serben für die groß- 
serbische Idee zu sterben. Der Belgrader Pöbel brachte den Vertretern von 
Rußland, Frankreich, England und Italien Huldigungen dar und wollte 
auf der österreichischen Gesandtschaft die Fenster einwerfen. In Konstan- 
tinopel wurden unter Ausschreitungen gegen österreichische Staatsange- 
hörige alle österreichischen Waren boykottiert. Die russische Presse nahm 
mit Leidenschaft für die Serben Partei, die mindestens große Kompen- 
sationen von Österreich verlangen müßten. Um die Verwirrung zu steigern, 
erklärte an demselben Tage, wo Kaiser Franz Josef durch ein Hand- 
schreiben an Aehrenthal seine Souveränität auf Bosnien und die Herzego- 
wina erstreckte, Fürst Ferdinand von Bulgarien sein Land als unabhän- 
giges Königreich. Europa war seit vielen Jahren nicht in solcher Erregung, 
in solcher Bewegung gewesen. 
Während ich an meinem Schreibtisch in Norderney angesichts des 
Meeres, das ich, ein Sohn der Niederelbe, von Kindesbeinen an so sehr 
liebte, mit gespannter und begreiflicher Aufmerksamkeit an der Hand der 
sich überstürzenden Telegramme und Berichte die Entwicklung der bos- 
nischen Krisis verfolgte, hatte ich gleichzeitig die Gesetzentwürfe über die 
Brau-, Wein-, Branntwein-, Tabak-, Elektrizitäts-, Gas- und Anzeigen- 
steuer zu prüfen, die mit der Nachlaßsteuer, der Wehrsteuer, dem Erbrecht 
des Staats und der Erbschaftssteuer der Finanznot des Reichs abhelfen 
sollten. In der allgemeinen Begründung der vorgeschlagenen Reichs- 
finanzreform hieß es: „Durch das dauernde Mißverhältnis zwischen Bedarf 
und Deckung ist dem Deutschen Reich eine schwere Schuldenlast auf- 
gebürdet worden. Die immer erneute Ausgabe von Schuldverschreibungen 
und Schatzanweisungen ohne die Aussicht einer Tilgung hat den Kurs- 
stand der Anleihe in einer Weise herabgedrückt, daß der Kredit des Reichs 
22 Bülow II 
Die 
Okkupation 
Bosniens 
von Kaiser 
Franz Josef 
proklamiert
	        
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