Die „Daily-
Telegraph“-
Affäre
338 DAS MANUSKRIPT AUS ROMINTEN
bereits in Friedenszeiten Einbuße zu erleiden droht... Die Beseitigung
dieses Mangels ist eine unbedingte Notwendigkeit für die Macht und das
Ansehen des Reichs und zugleich eine unerläßliche Voraussetzung für die
gedeihliche Weiterentwicklung der deutschen Volkswirtschaft. Nur durch
das einmütige und opferwillige Zusammenwirken aller Kreise des Volks
können die Finanzen des Reichs wieder auf eine dauernd gesicherte Grunud-
lage gestellt werden.“ Mit welchen Empfindungen erinnere ich mich heute
meiner Begründung der von mir vorgeschlagenen Reichsfinanzreform,
heute, wo die damals von mir beklagten Mißstände und vorgeschlagenen
Steuern so geringfügig, so harmlos und so bescheiden erscheinen!
Zu der am Horizont aufsteigenden, gewitterschwangeren bosnischen
Krisis und der finanziell, wirtschaftlich und innerpolitisch schwierigen, ver-
wickelten und nicht minder wichtigen Aufgabe der Reichsfinanzreform trat
im Herbst 1908 noch ein ärgerlicher Zwischenfall in Casablanca, der
den marokkanischen Zwist wieder anzufachen und damit die deutsch-
französischen Beziehungen auf eine neue Belastungsprobe zu stellen drohte.
Ich schaffte mir nach dieser Seite Luft, indem ich der französischen Regie-
rung vorschlug, den ziemlich undurchsichtigen Streitfall, wo jeder recht
und jeder unrecht hatte, dem Haager Schiedsgericht zu unterbreiten. Aber
die Vorlagen der Reichsfinanzreform sollten fertiggestellt werden, der bos-
nische Brandherd durfte sich nicht zum Weltfeuer entwickeln!
Während ich, mit Arbeit überhäuft, von früh bis spät in die Nacht mich
diesen schwierigen Materien widmete, erhielt ich aus dem kaiserlichen
Jagdschloß Rominten von dem Seine Majestät begleitenden Herrn von
Jenisch ein umfangreiches, mit ganz unleserlicher Schrift auf dünnem und
schlechtem Durchschlagpapier geschriebenes Manuskript mit einem Brief,
in dem ich gefragt wurde, ob der von Seiner Majestät gewünschten Publi-
kation des dem Brief beigeschlossenen Artikels durch ein englisches Blatt
Bedenken entgegenstünden. Eine seltsame Fügung des Schicksals wollte,
daß gerade in den Tagen, wo mir aus dem kaiserlichen Hoflager diese
ominöse Sendung zuging, ein Brief des achtzigjährigen Hinzpeter bei mir
eintraf, in dem mir der greise Mentor Seiner Majestät schrieb, er lauere seit
längerer Zeit auf die Gelegenheit, dem Reichskanzler seine Zustimmung und
sogar seine Bewunderung auszudrücken, „nicht seiner genialen Leitung der
auswärtigen Politik des Reichs, auch nicht seiner überlegenen Behandlung
der inneren Parteien, sondern, was mir eher möglich, meiner Bewunderung
seines pädagogischen Genies, welches sich zeigt in der Entwicklung seines
kaiserlichen Herrn unter seiner Leitung. Mit freudigem Erstaunen habe ich
verfolgt, wie die Selbstbeherrschung, diese für den Kaiser schwerste und
notwendigste Tugend, in Gedanken, Worten und Werken sich allmählich
in ihm entfaltete. Welcher wohltätige Einfluß dies bewirkt, kann keinem