WAHLRECHTSREFORM IN PREUSSEN 343
darin eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart.‘ Der Kaiser sprach
mir proprio motu den Wunsch aus, diese bedeutsame Thronrede selbst zu
verlesen. Er wollte keinen Zweifel darüber lassen, daß er wie ich eine Reform
des preußischen Wahlrechts im Interesse nicht allein des Landes, sondern
auch der Krone für wünschenswert und notwendig hielte. Ich sah natürlich
voraus, daß die Ankündigung der Thronrede die Konservativen erregen
würde, die sich bisher im Preußischen Abgeordnetenhaus gerade so als die
Herren fühlten, wie sich unter demselben Wahlrecht fünfundvierzig Jahre
früher die Fortschrittler als omnipotent betrachtet hatten. „Plus cela
change, plus c’est la möme chose““, heißt es in einem französischen Vaude-
ville. Ich hoffte aber damals, daß die Konservativen mehr Staatssinn und
eine größere politische Einsicht an den Tag legen würden, als dies in der
ersten Hälfte der sechziger Jahre ihre politischen Antipoden getan hatten.
Ich hoffte, daß die Konservativen die preußische Staatsräson höher stellen
würden als ihr noch dazu falsch verstandenes Parteiinteresse. Mit sorgen-
voller Miene bei mir eingetreten, verließ mich der Kaiser in heiterer Stim-
mung mit den Worten: „Also ich kann in aller Ruhe meinen guten Auwi
mit seiner von ihm so sehr geliebten Alix verheiraten und selbst nach
Wernigerode fahren und dort Hirsche schießen.‘ Auwi wurde in der Familie
Seiner Majestät der vierte Sohn des Kaisers, Prinz August Wilhelm,
genannt. Liebenswürdig, wohlerzogen, etwas weich, geistig nicht unbegabt,
mit künstlerischen Neigungen, erschien er dem Vater besser für die Zivil-
karriere geeignet als für das rauhe Handwerk der Waffen. Nachdem er sein
Referendarexamen abgelegt hatte, sollte er nach der Auffassung Seiner
Majestät Landrat, Regierungspräsident, Oberpräsident in Preußen und
schließlich Statthalter der Reichslande werden. Prinz August Wilhelm
hatte sich mit seiner hübschen Base Alix verlobt, der zweiten Tochter des
Herzogs Friedrich Ferdinand von Glücksburg und der Prinzessin Karoline
Mathilde von Augustenburg. Die letztere war die älteste Schwester der
Kaiserin und ebenso gut und verständig wie diese. Selten wurde eine Ehe
unter anscheinend glücklicheren Auspizien geschlossen als die Verbindung
zwischen Alix und Auwi.'
Bei der Hochzeitstafel am 22. Oktober 1908 hielt Kaiser Wilhelm II.
eine gefühlvolle Rede, in der er seine liebe Alix, die Tochter des meer-
umschlungenen Landes, feierte, die er mit offenen Armen aufnehme,
denn sie würde ihrer Tante und Schwiegermutter, der Kaiserin, ein treue
Helferin sein in allen Werken barmherziger Liebe. Er lobte seinen Sohn
für sein kurz vorher rühmlich abgelegtes Examen, durch das er seinem
Hause Ehre gemacht hätte und das ihm für seine Zivillaufbahn den Weg
geöffnet habe. Die gute Kaiserin, der nichts höher stand als die ganz ehrbare,
die legitime und dabei doch recht innige, recht zärtliche Liebe, die Liebe,