Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DAS GEFÄSS LÄUFT ÜBER 357 
bildeten nur den Tropfen, der das bis zum Rande gefüllte Gefäß der öffent- 
lichen Unzufriedenheit über die sich immer wiederholenden Unvorsichtig- 
keiten und Entgleisungen Seiner Majestät zum Überlaufen brachte. Die 
Nation wurde durch die englischen Gespräche Wilhelms II. gewaltsam, wie 
mit einem Rippenstoß, an alle politischen Fehler erinnert, die der Kaiser 
während der zwanzig Jahre seiner bisherigen Regierung sich hatte zuschul- 
den kommen lassen, an alle Warnungen, an alle grollenden Prophezeiungen 
des entamteten Fürsten Bismarck. Es ging auch wie eine dunkle Ahnung 
durch die weitesten Kreise, daß ein so unvorsichtiges, übereiltes, unkluges, 
ja kindisches Reden und Handeln des Oberhaupts des Reichs schließlich zu 
Katastrophen führen könne. Der Kaiser selbst fühlte, wenigstens vorüber- 
gehend, den Boden unter seinen Füßen wanken. Er hatte die Absicht ge- 
habt, Ende Oktober Hamburg und Kiel einen kurzen Besuch abzustatten, 
gab aber dieses Projekt auf, nachdem ihm Ballin geschrieben hatte, er möge 
nicht Hamburg passieren, da dort unfreundliche Demonstrationen zu 
gewärtigen wären. Dieser Avis au lecteur machte den Kaiser sehr betroffen. 
Er stattete mir am 31. Oktober, zwei Tage nach der Veröffentlichung des 
„Daily Telegraph‘“, einen Tag nach dem Artikel in der „Norddeutschen 
Allgemeinen Zeitung‘, einen mehr als zweistündigen Besuch ab. Er war, 
wie immer in kritischen Augenblicken, sehr weich, sehr klein. Ich verlichlte 
ihm nicht, daß, wenn ich auch gern bereit wäre, mich nicht nur, wie dies 
meine Pflicht sei, vor ihn zu stellen, sondern auch die Angrifte tunlichst auf 
mich zu lenken und immer wieder die bei der Behandlung des Artikels 
begangenen Büro-Versehen in den Vordergrund zu rücken, es im Reichstag 
doch wieder auf eine große Debatte über das schon so oft beanstandete 
persönliche Regiment Seiner Majestät herauskommen würde. Ich erinnerte 
den Kaiser daran, daß ich am 14. November 1906, also gerade zwei Jahre 
früher, vor dem Reichstag erklärt hätte: ich könne mir sehr wohl denken, 
daß ein Minister finden könne, daß ein übertriebenes persönliches Hervor- 
treten des Regenten, daß ein zu weit getriebener monarchischer Subjcktivis- 
mus dem monarchischen Interesse nicht zuträglich sei und daß er dafür die 
Verantwortung vor Krone, Land und Geschichte zu übernehmen nicht in 
der Lage wäre. Ich würde diesmal ähnlich sprechen müssen, und das im 
Interesse der Krone. Der Kaiser antwortete mir sehr ruhig: „Tun Sie, 
was Sie nicht lassen können.“ Mit fast bittendem Ausdruck fügte er hinzu: 
„Bringen Sie mich nur durch, vor allem bringen Sie uns durch!“ Seine ver- 
trauensvolle, kindliche Haltung rührte mich um so mehr, je weniger er mir 
Vorwürfe wegen des Versagens des doch sonst von ihm gar nicht geliebten 
Auswärtigen Amts machte. 
Auch hier muß ich wieder einen Fehler beichten, diesmal aber nicht 
einen moralischen, sondern einen intellektuellen Irrtum. Ich hätte
	        
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