Der Kaiser im
Berliner Rat-
haus
388 „MEINE STADT BERLIN“
Zauber, diesen Nimbus zu zerstören, diese Treue ins Wanken zu bringen,
Der Kronprinz verließ mich mit etwas enttäuschtem Ausdruck. Wenn er
in seinen Denkwürdigkeiten erzählt, daß er nach den Novembertagen als
Stellvertreter seines Vaters tiefe und ihn beunruhigende Einblicke in unsere
Regierungsmaschine getan habe, so täuscht ihn sein Gedächtnis. Ich ent-
sinne mich nicht, ihm in jener Zeit einen einzigen wirklich wichtigen Bericht
unterbreitet oder einen bedeutsamen Vortrag gehalten zu haben. Jedenfalls
habe ich, bevor der Kaiser völlig wiederhergestellt war, vom Kronprinzen
keinerlei Entscheidung von irgend größerer Tragweite erbeten.
Am 21. November fand im Berliner Rathaus die Hundertjahrfeier der
preußischen Städteordnung statt. Der Kaiser erschien mit gewohnter
Pünktlichkeit. Er sah noch immer blaß aus. Er begrüßte alle Anwesenden
mit großer Freundlichkeit. Auf die Ansprache des Oberbürgermeisters er-
widerte er nicht, wie dies bisher seine Gewohnbeit gewesen war, in freier
Rede, sondern er nahm aus meinen Händen die von mir aufgesetzte Rede
entgegen, die er mit kräftiger Stimme, ganz unbefangen vorlas. Es hieß in
dieser Ansprache: „Der mit der Gewährung der Selbstverwaltung von
Meinem Ahn seinem Volk gegebene Beweis des Vertrauens und der damit
verbundene Appell an die geistige und sittliche Kraft des Bürgertums
haben reiche Früchte gezeitigt. Echtes Gold wird klar im Feuer. Das echte
Gold deutscher Treue und Tüchtigkeit, welche die Bürgerschaft der Städte
erfüllen, ist im Feuer der Befreiungskriege geklärt und in hundertjähriger
ernster, opferfreudiger Arbeit für das Gemeinwohl bewährt. Wenn nach
den Worten des Preußenliedes nicht immer heller Sonnenschein leuchten
kann und es auch trübe Tage geben muß, so sollen aufsteigende Wolken
ihre Schatten niemals trennend zwischen Mich und Mein Volk werfen. Gott
segne Meine Stadt Berlin!“ Die Rede wurde von allen Anwesenden, auch
von den linksgerichteten Stadtverordneten, mit Beifall aufgenommen. Als
er seine Rede verlesen hatte, winkte mich der Kaiser zu sich und gab mir
das Manuskript der Rede wieder zurück, worauf er mir die Hand schüttelte.
Er wollte zeigen, daß er sich als konstitutioneller Herrscher fühle.
Die Erregung, welche die Novemberereignisse im deutschen Volke her-
vorgerufen hatten, zeigte sich auch in einer Flut von Briefen und Zu-
schriften an mich, von denen ich nur einige wenige wiedergeben kann. Der
verständige, sehr patriotische König Wilhelm von Württemberg telegra-
phierte mir: „Ich kann mir nicht versagen, meiner lebhaften Freude Aus-
druck zu geben, daß Eure Durchlaucht auch fernerhin die Leitung der Ge-
schicke unserer gemeinsamen Lande in Ihrer erprobten Hand behalten
werden.“ Auch sein ausgezeichneter Ministerpräsident Weizsäcker gab
seiner „innigen“ Freude Ausdruck, daß ich an der Spitze der Reichse-
geschäfte verbliebe. Die badische Regierung sprach mir ihre „dankbare