432 DIE VERLANGSAMUNG DES BAUTEMPOS
Zweifel lassen. Erste Pflicht eines Vertreters Seiner Majestät im Auslande
sei, die Wahrheit zu berichten und die Verhältnisse so zu schildern, wie sie
in Wahrheit lägen. Einen Botschafter, der das tue, werde er, der Reichs-
kanzler, stets decken, unbekümmert darum, ob diese ungeschminkte Wahr-
heit zu hören immer angenehm sei. Es nütze auch nichts, auf das Barometer
zu schelten, weil es schlechtes Wetter anzeige.
Die zunächst zur Erörterung stehende Frage war, ob der Vorschlag
des Admirals von Tirpitz einer Relation von 3:4 mit Fallenlassen des
Verzichts auf eine Novelle als Basis einer Verständigung mit England
betrachtet werden könne. Nach der Ansicht des Botschafters würde
ein derartiges an England gerichtetes Ansinnen in kürzester Frist zum
Kriege führen. Der Reichskanzler hob seinerseits hervor, daß nach
allen ihm zugehenden Nachrichten die Stimmung in England uns gegen-
über eine sehr ernste sei. Sie werde von der Befürchtung beherrscht, daß
wir im Flottenbau den Engländern gefährlich nahe kommen könnten.
Unter dem Eindruck dieser Besorgnis trete uns England in letzter Zeit
überall in der Welt feindlich gegenüber; es versuche auch andere Mächte
in Konflikt mit uns zu treiben. Wir hätten dafür in jüngster Zeit manche
Belege erhalten. Ernsthafte Leute in England sähen einen Krieg mit
Deutschland kommen. Es frage sich nun, wie in einem solchen Kriege
unsere Chancen liegen würden. Admiral von Tirpitz habe seine Ansicht
dahin ausgesprochen, daß wir einem Zusammenstoß mit England in
den nächsten Jahren mit Ruhe nicht entgegensehen könnten. Da dränge
sich die Frage auf, ob nicht eine Verständigung mit England möglich
sei. Diplomatische Mittel genügten augenscheinlich nicht mehr, um
England zu beruhigen. Eine Verständigung mit England über die
Flottenbaufrage könnten wir vielleicht erreichen auf der Basis einer
gegenseitigen Verlangsamung des Bautempos. Eine solche würde
am besten in Verbindung mit einer Verständigung in anderen Fragen, zum
Beispiel auf kolonialem Gebiet, in Handelspolitik, und allgemeinpolitischer
Natur, etwa in Form eines Neutralitätsabkommens, erfolgen. Unsere Be-
ziehungen zu England seien die einzige schwarze Wolke am Horizont unserer
auswärtigen Politik, der im übrigen jetzt heller sei als seit vielen Jahren.
Wir hätten seit zwanzig Jahren in der Welt nicht so geachtet und gefürchtet
dagestanden wie jetzt. Aber das Verhältnis zu England trübe den Ausblick
in die Zukunft.
Graf Metternich gibt auf Anregung des Herm Reichskanzlers eine
Schilderung der Stimmung in England: Diese sei noch vor zwei Jahr-
zehnten uns und dem Dreibund günstig gewesen. Durch die Krüger-De-
pesche und die Haltung der deutschen öffentlichen Meinung während des
Burenkrieges habe sie allerdings eine Trübung erfahren. Sie habe sich aber