Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

DER ZWEIFRONTENKRIEG DER ZUKUNFT 439 
Bundesgenossen fänden sie jetzt nicht. Wir brauchten auch einen eng- 
lischen Angriff nicht zu fürchten, denn wir könnten den Engländern zur 
See schon jetzt den größten Schaden zufügen. Die angebliche englische 
Aufregung über unsere Schiffsbauten sei nur ‚Mache‘, aus innerpolitischen 
Motiven hervorgegangen. Das sei die Auffassung, die iım Admiral von 
Tirpitz vorgetragen habe, und der müsse er sich anschließen.“ 
Die vorstehende Aufzeichnung gibt nur das Gerippe meines langen und 
eingehenden Immediatvortrages vom 11. Juni 1909. Ich wiesnachdrücklich, 
mit statistischem Material und an der Hand der Geschichte auf die großen 
Hilfsquellen hin, über die England verfüge, auf die gewaltige Leistungs- 
fähigkeit und Energie, die es in allen seinen Kriegen, von den Kriegen gegen 
Ludwig XIV. und Napoleon I. bis zum Burenkrieg, entfaltet habe. Ich 
sagte Seiner Majestät, ich glaubte auch jetzt nicht, daß England uns von 
heute auf morgen, unerwartet, überfallen werde, wieder Kaiser dies mehrfach 
befürchtet habe. Wohl aber bestehe die Gefahr, daß, wenn das Rennen mit 
England im Schiffsbau im bisherigen Tempo fortgesetzt würde, England, 
sobald wir in Verwicklung mit irgendeiner andern Macht gerieten, ins- 
besondere mit Rußland, sich sofort auf die Seite unserer Gegner schlagen 
würde. Das lähme unsere Politik nicht nur in der Gegenwart, sondern be- 
drohe uns für die Zukunft mit schweren Gefahren. Ein Zweifrontenkrieg 
sei unter allen Umständen für uns eine ernste Sache, mit England auf der 
Seite von Frankreich und Rußland auf der anderen Seite. Der Kaiser 
wollte meine Besorgnisse nicht gelten lassen. Er berief sich dabei auf 
unseren Generalstab. Ich erwiderte, auch der Generalstab sei nicht unfehl- 
bar; so unterschätze er auch erheblich die Force noire der Franzosen und 
meine, aus Afrika würde Frankreich nicht viel brauchbares Soldaten- 
material ziehen können; Afrika würde im Gegenteil den Franzosen mehr 
Soldaten zum Überwachen kosten, als Soldaten für die französische Armee 
gegen uns stellen. Diese Auffassung hielte ich auf Grund meiner bei einer 
Reise in Algier und Tunis gewonnenen Eindrücke für irrig. Ich hätte, 
betonte ich, die denkbar beste Meinung von dem preußischen Generalstab, 
diesem klugen Hirn der Armee, aber es sei von alters her ein Fehler unseres 
preußischen militärischen Denkens gewesen, die Westmächte und speziell 
die Engländer militärisch zu unterschätzen. Ich schalte hier ein, daß mir 
die Zukunft, zu meinem Schmerz, in dieser Beziehung recht gegeben hat. 
Schon Weihnachten 1914 standen fast fünfhunderttausend Engländer in 
Frankreich, 1917 an zwei Millionen. England hat im Weltkrieg über sechs 
Millionen Mann ins Feld gestellt, dazu noch über drei Millionen Soldaten 
aus seinen Kolonien, aus seinen Dominions und aus Indien. Es hat im 
ganzen zehu Millionen Mann mobilisiert. Im Laufe meiner wiederholten, von 
meiner Seite ruhig und mit möglichster Klarheit ernst und nachdrücklich
	        
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