DIE ERBSCHAFTSSTEUER 445
große aber die Chirurgie, ließ sich zu spät operieren. Als ich mich unter
seiner Obhut nach meinem Ohnmachtsanfall im Reichstag wieder voll-
kommen erholt hatte, veranstaltete meine Frau ein kleines Essen in unserem
Hause, zu dem wir außer Renvers und seiner liebenswürdigen Gattin eine
Anzahl Freunde einluden. Ich hielt einen Trinkspruch auf ihn, in dem ich
an das Wort von Schopenhauer erinnerte, daß der Advokat den Menschen
in seiner ganzen Schlechtigkeit sehe, der Theologe in seiner ganzen Dumm-
heit und der Arzt in seiner ganzen Schwäche. Bei aller Bewunderung für
den scharfsinnigen, tiefen Denker und großen Prosaisten Schopenhauer
erklärte ich sein Urteil über den Advokaten und über den Geistlichen für
ungerecht. Vor allem stellte ich fest, daß der Arzt den Menschen zuweilen
auch in seiner ganzen Dankbarkeit vor sich sehe, und das gelte für mein
Verhältnis zu Renvers. Ich werde ihn nie vergessen.
Bei der grundsätzlichen Opposition des Zentrums und der starken
Abneigung der Konservativen sowohl gegen die von mir in Preußen beab-
sichtigte Wahlreform wie gegen die von mir vorgeschlagene Erbschafts-
steuer war der Block nur zusammenzuhalten, wenn die Krone fest hinter
mir stand. Das Zentrum war ursprünglich und an und für sich der Erbschafts-
steuer in keiner Weise abgeneigt gewesen. Als ich 1905 die sogenannte
kleine Finanzreform in Angriff nahm, hatte ich in der Rede, die ich am
6. Dezember 1905 bei der ersten Etatsberatung hielt*, eingehend und offen
die Bedenken ausgeführt, die ich gegen die Erbschaftssteuer empfände.
Als ich meine Rede gehalten hatte, machte mir der Führer des Zentrums,
Herr Spahn, artige Komplimente über die Klarheit, mit der ich diesen
schwierigen Gegenstand behandelt hätte. Ich hätte es verstanden, sogar
diesem spröden Stoff Geist abzugewinnen. Er verstünde nur nicht, weshalb
ich gegen die Erbschaftssteuer Bedenken hätte. Ich entgegnete ihm, daß
ich einige Tage vorher eine Eingabe der rheinisch-westfälischen Malteser
erhalten hätte, die vom Standpunkt der Familie gerade gegen diese Steuer
protestierten. Ich hörte, daß auch die Bischöfe von Bedenken gegen die
Erbschaftssteuer erfüllt wären. Nicht ohne Humor erwiderte mir Herr
Spahn: „Ja, wenn Sie die Finanzreform und Steuervorschläge aus dem
Gesichtswinkel der Maltesergenossenschaft oder auch der hochwürdigen
Herren Bischöfe machen wollen, dann werden Sie nicht weit kommen.“
Nach Tische las man’s anders. Gerade die von mir aus wohlerwogenen,
sachlichen Gründen vorgeschlagene Erbschaftssteuer erschien dem Zentrum
als der geeignete Boden, die Konservativen zu sich herüberzulocken und
gemeinsam mit ihnen mich zu Fall zu bringen. Um einerseits die Reichs-
finanzreform in einer dem wahren Interesse des Reichs wie der Krone ent-
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe II, 237; Reclam-Ausgabe IV, 12.
Die Haltung
des Zentrums