Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

STROH UNTER DEN AST 463 
bat? Der erfreut ist von dem parlamentarischen Ton, der seit der Ein- 
führung des gleichen, allgemeinen Wahlrechts in der Berliner Stadt- 
verordnetenversammlung herrscht? Während ich diese Zeilen diktiere, 
liegt mir eine Zeitung vor, in der über einen kürzlich vorgekommenen Zwi- 
schenfall in einer Sitzung des Berliner Stadtparlaments das Nachstchende 
berichtet wird: Der sozialdemokratische Stadtverordnete Ullrich stürzte 
sich im Laufe der Debatte über die Zirkus-Busch-Krawalle plötzlich auf 
seinen rechts gerichteten Kollegen Lucdtke, hieb auf ihn ein, stieß ihn in 
den Rücken und rief dem Zubodengeworfenen zu: „Sie Lump, Ihnen zer- 
reiße ich in Stücke.““ Der Mißhandelte erhob Klage vor der Schöffenabtei- 
lung Berlin-Mitte. Der Amtsanwalt vertrat die Anklage mit großer Milde. 
Er gestand dem sozialdemokratischen Rohling „eine gewisse Erregung“ 
zu, fand aber doch, daß derartige Szenen die deutschen Parlamente im 
In- und Auslande etwas in Mißkredit brächten. Offenbar erinnerte er sich 
an das Wort des Reichskanzlers Josef Wirth, daß der Feind immer rechts 
stehe. Er beantragte schließlich nur sechs Wochen Gefängnis. Das Gericht 
verurteilte zu einer höheren Geldstrafe oder entsprechender Gefängnis- 
strafe. Meines Erachtens hätte der Genosse Ullrich vor allem veranlaßt 
werden sollen, noch einige Zeit die Elementarschule zu besuchen, um zu 
lernen, daß, wenn ein waschechter Sozialist allenfalls einen Kollegen an 
Leib und Leben bedrohen kann, er ihm doch nicht zurufen darf: „Ihnen 
zerreiße ich in Stücke“, sondern sagen muß: „Sie zerreiße ich in Stücke.‘ 
In der Frage des preußischen Wahlrechts war es meine Absicht, die 
wünschenswerte und notwendige Reform in einer Weise durchzuführen, 
die der Alleinherrschaft und Präpotenz der Konservativen ein Ende setzte, 
ohne ihnen deshalb die Möglichkeit zu nehmen, sei es mit dem Zentrum, sei 
es mit den Liberalen, eine Mehrheit zu bilden. Um dahin zu gelangen, gab 
es damals mehr als einen gangbaren und verständigen Weg. Gerade die 
Liberalen wünschten im letzten Jahr meiner Amtsführung eine besonnene 
und möglichst maßvolle Wahlreform. Der Führer der Nationalliberalen, 
Professor Robert Friedberg, ein Jahrzehnt später Vizepräsident des Preu- 
Bischen Staatsministeriums unter Hertling, erklärte mir: „Wir National- 
liberalen können bei jeder Wahlreform nur verlieren. Wenn wir einer sol- 
chen zustimmen, sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen. Legen Sie 
wenigstens ordentlich Stroh unter, damit wir uns nicht den Hals brechen.“ 
Einer der klügsten und einflußreichsten Freisinnigen, Reinhart Schmidt- 
Elberfeld, 1895 erster, 1898 bis 1900 zweiter Vizepräsident des Reichstags, 
sagte mir, die Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen werde 
zweifellos die Einführung dieses Wahlrechts auch in den Kommunen 
nach eich ziehen, also Stellung und Einfluß der bürgerlichen Demo- 
kratie gerade da bedrohen, wo die starken Wurzeln ihrer Kraft lägen.
	        
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