Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

BEI TISCH UND NACHHER 529 
sollen.“ S. M.: ‚Wenn Sie sich orientieren wollen, so rate Ich Ihnen, das 
Buch von Martin zu lesen. Aber Ich verstehe wenig von allen politischen 
Treibereien und Sie noch weniger. Gehen wir jetzt zu Tisch.‘ “ 
Ich saß dem Kaiser gegenüber, links von mir in einiger Entfernung 
Professor Theodor Schiemann, den der Kaiser an die Spitze der einzu- 
ladenden Gäste gesetzt hatte. Während des Essens wandte sich Schiemann 
direkt an den Kaiser mit den Worten: „Eure Majestät können mir glauben. 
Die Engländer sind feige!“ Schiemann, der einen ausgesprochen baltischen 
Akzent hatte, sprach das letztgenannte Wort aus wie „faije“. Der Kaiser 
machte ein verlegenes Gesicht. Ich sagte zu Schiemann: „Man kann den 
Engländern manchen Vorwurf machen, man kann sagen, daß sie zu Selbst- 
sucht, zu Hochmut, bisweilen auch zu Brutalität und Heuchclei neigen, 
aber Feigheit kann man ihnen wirklich nicht vorwerfen. Sie haben in allen 
ihren Kriegen zu Lande wie zu Wasser, von Malplaquet bis Waterloo und 
Trafalgar und bis zum Burenkrieg, von Marlborough, Nelson und Welling- 
ton bis zu Sir Henry Havelock und Lord Roberts große Tapferkeit und 
Zähigkeit an den Tag gelegt.“ Schiemann schwieg sehr pikiert. Bald nach- 
her fing er wieder an: „Majestät, ich habe erfreuliche und ganz sichere 
Nachrichten. Das englische Reich kracht in allen Fugen. In Südafrika 
bereitet sich ein großer Burenaufstand vor, Kanada will sich an die Ver- 
einigten Staaten anschließen, Australien sich unabhängig erklären. In 
Indien gärt es ganz gewaltig. Das englische Weltreich bricht auseinander.“ 
Der Kaiser sah nach einer anderen Seite. Ich sagte, nicht ohne Schärfe, zu 
Schiemann: „Ich bedaure aus vielen Gründen, mich von Seiner Majestät 
zu trennen. Aber wenn ich solchen Unsinn anhören muß wie die Phan- 
tastereien, die Sie uns da eben vorsetzten, so bedaure ich doppelt, nicht 
mehr in der Nähe Seiner Majestät zu weilen.‘“ Schiemann bekam einen 
feuerroten Kopf. Nach Tisch näherte sich mir die Kaiserin und sagte mir: 
„Ich habe mich so gefreut, daß Sie diesem gräßlichen Schiemann auf die 
Finger geklopft haben. Solche Leute sind Gift für den Kaiser, der mit 
seinem guten Herzen und seinem edlen Sion viel zu sehr auf sie hört. 
Schiemann ist so entsetzlich aufdringlich! Cissy (so wurde in der kaiser- 
lichen Familie die Prinzessin Viktoria Luise, die spätere Herzogin von 
Braunschweig, genannt) sagt immer: ‚Professor Schiemann läuft hinter 
Papa her wie ein Bräutigam hinter seiner Braut.‘ Ich habe Cissy gesagt, 
ein kleines Mädchen brauche gar nicht zu wissen, wie ein Bräutigam hinter 
seiner Braut herläuft.‘“ Die Kaiserin setzte nach einer kleinen Pause hinzu: 
„Aber seien Sie auf Ihrer Hut mit Schiemann. Er sah so giftig aus, als Sie 
ihn zurechtwiesen.“ 
Nach Tisch zog die Kaiserin meine Frau in ein längeres Gespräch. In 
ihrer gütigen und wahrhaften Art bat sie meine Frau, nicht zu vergessen,
	        
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