Giolitti in
Homburg
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der Angelegenheit auch meinen wärmsten Dank auszusprechen. Eurer Exzel-
lenz allezeit dankbar ergebener Leopold Graf-Regent zu Lippe.‘ Alsich in
einem der folgenden Sommer in Norderney weilte, stattete mir der 1905 zum
Fürsten und zur „Hochfürstlichen Durchlaucht‘ avaneierte Leopold IV.
dort einen sehr freundlichen Besuch ab. Als mein langjähriger italienischer
Kammerdiener Augusto den hohen Herrn in einem bescheidenen Miets-
wagen vor unserer Villa ankommen sah, meinte er erstaunt: „E questo
si chiama in Germania un Sovrano!“ Der ganze Unterschied zwischen
italienischer und deutscher Einheit, italienischer und deutscher Mentalität
liegt in dieser kleinen Bemerkung. Und doch war der Lippesche Streitfall,
der Höfe, Regierungen und Volk in Deutschland so unverhältnismäßig er-
regte, ein Wetterleuchten, das dem Novembersturm von 1908 vorausging.
Gerade in den Tagen, wo durch den Tod des Graf-Regenten Ernst zu
Lippe die Erbschafts- und Regentschaftsfrage in jenem Ländchen die
Deutschen beschäftigte, empfing ich in Homburg v. d. H. den Besuch des
italienischen Ministerpräsidenten Giolitti, zu dem ich schon wührend des
Kaiserbesuchs in Rom gute persönliche Beziehungen angeknüpft hatte.
Giovanni Giolitti ist einer der bedeutendsten Staatsmänner, die das an
politischen Köpfen nicht arme moderne Italien seit dem Risorgimento
hervorgebracht hat. Piemontese, besitzt er die tüchtigen Eigenschaften
seines Stammes. Er hatte schon unter Marco Minghetti im Finanzmini-
sterium gearbeitet, war noch während dessen Ministerpräsidentschaft
Generalinspektor des Steuerwesens geworden, später Generaldirektor des
Rechnungshofes. Erst 1882, mit vierzig Jahren, ließ er sich zum Deputierten
wählen. Es ist Giolitti immer zustatten gekommen, daß er als Beamter von
der Pike auf gedient hatte und die Verwaltung in allen ihren Zweigen
gründlich kannte. Als Abgeordneter zeigte er bald ungewöhnliche parla-
ınentarische Vorzüge: unerschütterlichen Gleichmut gegenüber parlamen-
tarischen Stürmen, Festigkeit, wo solche nottat, eine elastische Hand, wo
sie sich empfahl. Wie er nie seine Ruhe verlor, so auch nicht seine gute
Laune. Er war imstande, in den Wandelgängen der Kammer zwei Dutzend
Deputierte nacheinander anzusprechen und sie dadurch zufriedenzustellen.
Er war auch imstande und besaß die physische Widerstandsfähigkeit, im
Ministerium des Innern, dem alten Palazzo Braschi, vor dem das Erz-
denkmal von Marco Minghetti steht, die zahlreichen Bittsteller freundlich
zu empfangen, die in Italien die Vorzimmer aller Minister füllen und die
den heftigen Crispi, den kränklichen Rudini, den menschenscheuen
Sonnino zur Verzweiflung brachten. In seinem Auftreten und in seinen
Manieren ist Giolitti, wie die meisten seiner Landsleute, einfach und natür-
lich, ohne Pose noch Prätention. Das aflektierte Wesen, das manche
Deutsche an den Tag legen, sobald sie eine gewisse Stellung erklettert haben,