Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

HOHENZOLLERN — ROMANOW 61 
französischen Kulturkampf empfand Giolitti begreifliche Genugtuung, 
betonte aber, daß er nicht dumm genug sein würde, einen solchen in Italien 
zu inszenieren. Die Italiener wären ein skeptisches Volk und begriffen nicht, 
wie man sich wegen religiöser Fragen echauffieren könne. Es gelang mir 
nur schwer, Herrn Giolitti klarzumachen, weshalb sich eigentlich ein großer 
Teil der Deutschen über die Aufhebung des $ 2 des Jesuitengesetzes auf- 
geregt habe. Als Giolitti die Sache endlich begriff, meinte er, der deutsche 
Doktrinarismus sei „unergründlich‘“. In Italien wäre seit 1848 eine Reihe 
von Gesetzen gegen die Jesuiten erlassen worden, die aber gar nicht an- 
gewandt zu werden brauchten. Die Jesuiten wüßten, daß, wenn sie sich 
direkt oder indirekt gegen die italienische Nationalidee vergingen, sie sofort 
ausgewiesen werden würden. Sie verhielten sich also ganz ruhig und sehr 
korrekt. Herr Giolitti besorgte damals, daß Monsieur Combes durch seine 
Übertreibungen in Frankreich eine klerikale Reaktion hervorrufen könnte, 
was für Italien natürlich unerwünscht sein würde. Der Präsident Loubet 
und der Minister des Äußern Delcasse hatten bei ihrem Besuch in Rom 
Herrn Giolitti gesagt, daß sie den Antiklerikalismus von Combes „sehr 
übertrieben“ fänden. In demselben Sinne hatten sich beide gegenüber der 
streng katholischen Königin-Mutter Margherita ausgesprochen. Hinsicht- 
lich seiner inneren Politik wiederholte mir Giolitti, was er mir schon öfters 
gesagt hatte, nämlich, daß die Ordnung mit fester, mit sehr fester Hand auf- 
rechterhalten werden müsse, daß aber bei dem Druck, der in Italien 
namentlich auf der ländlichen Arbeiterbevölkerung laste, die italienische 
Monarchie sich nicht ganz mit den ländlichen Arbeitgebern, den „‚Signori“, 
identifizieren dürfe. Übrigens stehe die Monarchie in Italien viel fester, als 
im Ausland angenommen würde. Wenn die Berichte veröffentlicht werden 
sollten, welche die in Italien akkreditierten fremden Gesandten in den 
sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts über die italienischen 
Zustände geschrieben hätten, so würde sich herausstellen, daß diese Herren, 
vielleicht mit alleiniger Ausnahme des ruhig beobachtenden Engländers, 
alle den Sturz des Hauses Savoyen prophezeiten. Wie sich die damaligen 
Propheten geirrt hätten, so würden auch diejenigen unrecht behalten, 
die heute die italienischen Zustände mit übertriebener Schwarzscherei 
beurteilten. Die Monarchie werde sich in Italien weiterbehaupten, Italien 
aber werde bei verständiger, ruhiger und taktvoller Politik von beiden 
Seiten an der Seite von Deutschland bleiben. 
Kaum ein anderer Gedanke hat Kaiser Wilhelm II. während seiner Re- 
gierung lebhafter beschäftigt als der Wunsch einer Allianz zwischen den 
Häusern Hohenzollern und Romanow, zwischen der preußisch-deutschen 
und der russischen Monarchie. Wie fast ir mer bei Seiner Majestät war auch 
dieser Wunsch des Kaisers aus persönlichen Empfindungen hervorgegangen, 
Der Kaiser 
und Rußland
	        
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