62 DAS ZERREISSEN DES DRAUTES
Wilhelm II. wußte sehr wohl, wenn er es auch nicht eingestand, daß er an
der von deutscher Seite erfolgten Kündigung des Bismarckschen Rück-
versicherungsvertrages mit Rußland, die ipso facto zur russisch-französi-
schen Allianz geführt hatte, wenn nicht die Hauptschuld, so doch einen
großen Teil der Schuld trug. Bei seiner von ihm nur zu oft proklamierten
Theorie von der alleinigen Verantwortung des Monarchen vor Gott, vor
seinem Volk und vor der Geschichte wäre er sogar der allein Schuldige
an diesem inkommensurablen Fehler gewesen. In den ersten Jahren nach
der Entlassung des Fürsten Bismarck motivierte Wilhelm II. das Zerreißen
des Drahtes nach Rußland mit ethischen Motiven: der Vertrag wäre ein
„Verrat an Habsburg‘‘ gewesen. Da dieses ihm von Holstein und Phili
Eulenburg soufflierte Argument auf die Länge nicht zog, behauptete der
Kaiser, er hätte sich von Rußland abwenden müssen, um wirklich gute
Beziehungen zu England zu erreichen. Auch diese Behauptung war nach
der Krüger-Depesche nicht mehr aufrechtzuerhalten. So blieb’ dem Kaiser
nichts anderes übrig, als den Beweis zu führen, daß er auch nach Bismarck,
ohne Bismarck und trotz Bismarck wieder mit Rußland zu einem Vertrags-
verhältnis kommen könne. Ich hatte dem Kaiser schon bei meiner Berufung
von Rom nach Berlin, 1897, gesagt, daß, nachdem der deutsch-russische
Vertrag sieben Jahre früher von uns, noch dazu unter wenig erquicklichen
Begleiterscheinungen und in unfreundlicher Form, gekündigt worden wäre,
die russische Regierung sich nicht bereitfinden lassen würde und tatsächlich
bei der Volksstimmung in Rußland auch kaum in der Lage sei, unter Zer-
reißung der feierlich proklamierten Allianz mit Frankreich ein Bündnis
mit uns zu schließen. Was wir selbst 1890 erschlagen hätten, könne nicht
wieder zum Leben erweckt werden. Was aber durchaus möglich sei, wäre,
durch eine geschickte und ruhige Politik nicht nur Frieden, sondern auch
Freundschaft mit Rußland zu erhalten. Der Kaiser gab aber die Hoffnung
nicht auf, durch persönliche Einwirkung auf den Zaren sein Ziel zu er-
reichen. Es lag in seiner Natur und in der irrigen Auffassung seiner Stellung
als Herrscher, daß er auswärtige Politik vor allem durch Einwirkung auf
andere Souveräne und mit anderen Souveränen machen wollte. Er hatte
dem Ausbruch des Kriegs zwischen Rußland und Japan vor allem deshalb
mit von mir schwer zu zügelnder Ungeduld entgegengesehen, weil er hoffte,
daß die Not eines großen auswärtigen Konfliktes Kaiser Nikolaus nötigen
werde, bei seinem deutschen „Kollegen“ Unterstützung und vor allem
guten Rat zu erbitten. Als der Kaiser am 21. Januar 1904, also mehr als
zwei Wochen vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten, ein Telegramm des
Zaren erhalten hatte, das die Hoffnung aussprach, daß der Friede nicht
gestört werden würde, war Seine Majestät sehr niedergeschlagen. Er be-
sorgte, daß der Zar es keinesfalls zum Krieg mit Japan kommen lassen