Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Dritter Band. Weltkrieg und Zusammenbruch. (3)

Wieder- 
herstellung 
konservativer 
Sympathien 
102 EIN BLATT IM WINDE 
versammlung, dieses ‚Parlaments, das durch seinen Mangel an Perspek- 
tive und seine Weltfremdheit, seine Geschwätzigkeit und seine Schwerfällig- 
keit, mit seinem Reden wie mit seinem Tun von Anfang bis zu Ende ein 
Fiasko war, als einen Höhepunkt der deutschen Geschichte feiern und von 
1848 mit einem kühnen Sprung als zu dem zweiten Gipfel unserer Entwick- 
lung zu dem Novemberumsturz von 1918 gelangen würde, ohne der ehr- 
würdigsten Erscheinung der deutschen Geschichte, des alten Kaisers Wil- 
helm I., ohne des genialsten und größten deutschen Staatsmannes, des 
Fürsten Bismarck, auch nur mit einer Silbe zu gedenken. Ich glaube, daß 
kein Volk außer dem deutschen eine solche Travestierung seiner Geschichte 
ertrüge. Unser Volk kann und wird nur genesen, wenn es sich auf seine Ver- 
gangenheit besinnt, wenn es sich wieder mit Stolz auf seine Vergangenheit, 
mit Ehrfurcht für seine Vergangenheit erfüllt. Ein Volk ohne Geschichte, 
ohne Tradition und Pietät ist ein wurzelloses Volk, ein Blatt im Winde. Die 
Größe eines Volkes liegt in seiner Geschichte, in der Treue für seine Ge- 
schichte, in der weitherzigen Auffassung seiner Geschichte. „Je me sens 
patriote pour admirer a la fois Jeanne d’Arc et Voltaire“, sagte Gambetta. 
Napoleon betonte: „Je me sens solidaire de tous ceux qui ont gouverne la 
France avant moi, de Clovis jusqu’a Danton.“ In seinem Aufruf vor den 
letzten von ihm geleiteten Wahlen appellierte ein alter Demokrat, der 
achtzigjährige Giolitti, an die Kontinuität der italienischen Entwicklung 
von der Römerzeit bis zur Gegenwart, und jeder Engländer steht auf 
dem Boden der Einheitlichkeit der englischen Geschichte, von Alfred 
dem Großen über Cromwell bis zur Victorianischen Ära und zu König 
Eduard VII. 
Meine Dennewitzer Rede führte mir manchen alten Freund wieder zu, 
den meine Blockpolitik, die von mir eingebrachte Erbanfallsteuer und die 
von mir in Angriff genommene Reform des preußischen Wahlrechtes an mir 
irregemacht hatten. Graf Waldemar Roon schrieb mir: „Euer Durch- 
laucht wollen mir gütigst verzeihen, aber ich kann nicht anders, ich muß 
Ihnen aus vollein patriotischem Herzen den wärmsten Dank für Ihre Denne- 
witzer Rede sagen! Das war wie ein herrlicher frischer Labetrunk in poli- 
tischer Wüste! Gewiß haben Eure Durchlaucht Tausende treuer Patrivten 
damit erquickt und dürfen sich nicht wundern, wenn Sie bei mir begeisterte 
Dankbarkeit dadurch auslösten. Nicht allein bewundere ich als alter Soldat 
Ihre in kräftigen Strichen, in so richtiger, anschaulicher und wahrhaft klas- 
sischer Weise gegebene Zeichnung der glorreichen Schlacht und der Art, 
wie Sie dabei des heldenhaften Führers wie auch der einfachsten Mit- 
kämpfer in so prächtigen, packenden und im besten Sinne populären 
Worten gerecht wurden; fast noch mehr haben mich begeistert, ja beglückt 
die darangeknüpften ethischen und politischen Betrachtungen und Lehren,
	        
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